Konstruierte Bedrohung

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Der Film "Manufacturing the Threat“ von Amy Miller zeigt anhand eines Vorfalls aus dem Jahr 2013, wie der kanadische Geheimdienst ein zum Islam konvertiertes Paar dazu benutzte, einen angeblichen Terroranschlag zu planen. (Foto: Wide Open Exposure Productions)

Nach den Terroranschlägen vom 11. September gerieten Muslime unter Generalverdacht. Der Dokumentarfilm "Manufacturing the Threat“ zeigt, wie der kanadische Geheimdienst selbst die Bedrohung inszeniert hat, vor der er das Land warnte.

Von Changiz Varzi

Das Cinema du Parc, in dem Manufacturing the Threat (dt. Konstruktion einer Bedrohung) am 25. August 2023 seine Premiere feierte, liegt in einem von Obdachlosen geprägten Stadtteil von Montreal.   

An der Kreuzung von Rue de Park und Rue Milton trifft man vor angesagten Cafés und Restaurants auf Obdachlose unterschiedlicher Herkunft und Religion, die Zuflucht in Drogen suchen. Im Kino erzählt der Dokumentarfilm von Amy Miller die Geschichte zweier Mittelloser von der Westküste Kanadas. 

Der Dokumentarfilm Manufacturing the Threat beleuchtet die verstörende Arbeitsweise der kanadischen Bundespolizei Royal Canadian Mounted Police (RCMP). Der Film handelt von einem Vorfall aus dem Jahr 2013, der als "Project Souvenir“ bekannt wurde. Damals wurden John "Omar" Nuttall und Amanda "Ana" Korody, ein mittelloses, zuvor zum Islam konvertiertes Ehepaar, von kanadischen verdeckten Ermittlern dazu gebracht, einen vermeintlichen Terroranschlag zu planen. 

Die Operation fand unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 statt, die ein neues Feindbild für die westliche Welt geschaffen haben. Seit den Anschlägen in News York und Washington hat sich der Fokus der Weltöffentlichkeit vom Kalten Krieg und dem Kommunismus auf die Bedrohung durch den Islamismus verlagert. 

Collage of images of people, mostly taken using hidden camera or CCTV
Zerbrochene Illusionen: "Es ist ein Mythos, dass Kanada der globale Musterknabe ist. Dieser Glaube ist falsch und entspricht nicht der Realität, aber er ist Teil der kulturellen Identität“, sagt die Dokumentarfilmerin Amy Miller. "Den Kanadiern wurde dieser Glaube eingeimpft, und viele sind stolz darauf." (Foto: Wide Open Exposure Productions)

Vom Geheimdienst inszeniert

Am 1. Juli 2013 verhaftete die Polizei Omar Nuttall und Ana Korody, nachdem das Paar in einer vom Geheimdienst inszenierten Aktion Bombenattrappen im Parlamentsgebäude von Victoria, der Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia, deponiert hatte. In der Öffentlichkeit stellte die Bundespolizei die Verhaftung des Paares als erfolgreiche Operation gegen den islamistischen Extremismus in Kanada dar. 

Omar Nuttall widerspricht dieser Darstellung vehement. Im Dokumentarfilm betont er, dass es sich bei der Operation um einen "Insider-Job unter falscher Flagge, durchgeführt von der kanadischen Regierung“ gehandelt habe. Dennoch wurde Nuttall zusammen mit seiner Frau für schuldig befunden, einen Mord geplant und Sprengstoff für eine terroristische Organisation gelegt zu haben. 

Ihr Anwalt brauchte drei Jahre, bis er die Justiz davon überzeugen konnte, dass das von Sucht und Armut geplagte Ehepaar von der Bundespolizei in eine Falle gelockt worden war. 

Ein Schock für die Gesellschaft

Nach dem Kinobesuch zeigten sich viele Zuschauer schockiert. Am ersten Abend der Filmvorführung in Montreal bezeichnete eine Zuschauerin aus dem Nahen Osten das Vorgehen der kanadischen Polizei als "unmenschlich und illegal“. Sie verglich die Verhaftung des Paares mit den Praktiken diktatorischer Regime im Nahen Osten. 

"Ich bin sprachlos. Ich komme aus dem Nahen Osten und weiß, wie es dort zugeht. Was hier passiert, scheint das zu sein, was auch in den Ländern dort passiert“, fügte sie hinzu. 

Während der Diskussion im Anschluss an die Filmvorführung sagte eine andere Zuschauerin zu Regisseurin Amy Miller: "Ich bin zutiefst beunruhigt und verängstigt. Ich hätte nie gedacht, dass die Regierung so hinterhältig und korrupt sein kann.“ 

Für Miller kam der Schock, den der Film auslöste, nicht überraschend. Gegenüber Qantara.de erklärte sie, ihr Film stelle "den Mythos von Kanada als wohlwollendem Land auf der einen Seite und den 'big bad USA' auf der anderen Seite" infrage. 

"Es ist ein Mythos, dass Kanada der globale Musterknabe ist. Dieser Glaube ist falsch und entspricht nicht der Realität, aber er ist Teil der kulturellen Identität. Den Kanadiern wurde dieser Glaube eingeimpft, und viele sind stolz darauf“, so Miller. 

Alexandre Popovic, Aktivist und Autor des Buches "Produire la Menace“ (2017), das als Vorlage für den Film diente, erklärte bei der Podiumsdiskussion, in Kanada verfolge die "politische Polizei“ Minderheiten. "Wir nennen es Demokratie, aber es ist Überwachung. Diese Leute, die dafür bezahlt werden, uns zu überwachen, haben die Mittel, sie haben die Macht, sie haben das Gesetz hinter sich. Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Gesellschaftlich gesehen sind sie eine winzige Minderheit. Wir hingegen sind die Mehrheit. Wir können das alles stoppen“, betonte er. 

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Die mehrfach ausgezeichnete Filmemacherin Amy Miller lebt in Montreal. Ihre Filme wurden weltweit auf über 80 Festivals gezeigt. Sie hat sich auf kritische Dokumentarfilme spezialisiert, die für einen gesellschaftlichen Wandel eintreten und Basisbewegungen unterstützen. (Foto: Wide Open Exposure / Manufacturing the Threat)

In die Falle getappt

Der Film zeigt Undercover-Aufnahmen von Gesprächen, die die Ermittler in Autos und gemieteten Hotelzimmern mit dem Paar geführt haben. 

Marco Fortier, ein bekannter kanadischer Autor und Journalist, hob die besondere Bedeutung dieser Aufnahmen hervor: "Die Stärke dieses fast eineinhalbstündigen Dokumentarfilms liegt zu einem großen Teil in den Bildern, die von verdeckten Ermittlern selbst aufgenommen wurden. ... Wir werden Zeugen, wie das Paar in die Falle der Ermittler tappt, die um jeden Preis nach Schuldigen suchen“, schrieb er in einer Rezension für die französischsprachige kanadische Tageszeitung Le Devoir. 

In den Aufnahmen zeigt Miller auch, wie sich verdeckte Ermittler dem Paar zunächst unter dem Vorwand nähern, sie wollten ihm islamische Schriften anbieten. Um die Kontrolle zu behalten, empfahlen sie dem Paar gleichzeitig, keine islamischen Zentren mehr zu besuchen. 

Manufacturing the Threat enthüllt, wie die Ermittler die frisch konvertierten Muslime in eine minutiös geplante Falle locken, indem sie ihnen zunächst Geld und religiöse Unterweisung anbieten. Schließlich wurde das Paar unter Druck gesetzt, damit sie einen konkreten Plan für einen Terroranschlag ausarbeiten. 

Aus den aufgezeichneten Gesprächen geht hervor, dass Nuttall und Korody befürchteten, von verdeckten Ermittlern getötet zu werden, sollten sie sich weigern, den Terroranschlag zu planen. In dieser Situation schlägt Nuttall verschiedene absurde Ideen vor, die alle von ihrem religiösen Anführer abgelehnt werden. 

Schließlich einigte man sich auf Nuttalls Plan, selbstgefertigte Sprengsätze aus Schnellkochtöpfen herzustellen, ähnlich wie beim Anschlag auf den Boston-Marathon im selben Jahr. Die Ermittler mieteten dem Paar ein Hotelzimmer, besorgten ihnen das schwarze Banner des sog. Islamischen Staates und eine Videokamera, mit der sie ihren IS-Treueschwur aufnehmen sollten. 

Mit leiser Stimme erzählt Ana Korody, die offensichtlich unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und dem Restless-Legs-Syndrom leidet, wie erleichtert sie war, als die Polizei schließlich das Hotelzimmer stürmte und sie verhaftete. Es war, als wäre ein Albtraum endlich zu Ende gegangen. 

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Zerstörte Leben

Miller beschreibt das Leben von Nuttall und Korody nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis 2016 und die Auswirkungen, die ihre Erlebnisse auf sie haben: "Sie sind völlig gebrochen. Ihr Leben spielt sich in einer Einzimmerwohnung ab. Sie haben kaum Kontakt zu anderen Menschen.“ 

Das Ehepaar hat an der Entstehung des Dokumentarfilms mitgewirkt, war aber bei der Premiere nicht dabei. Es will Abstand von den Erlebnissen des Jahres 2013 gewinnen.  

Der Versuch, das Paar für ihre Zwecke zu manipulieren, kam die kanadische Regierung teuer zu stehen. Ein Bericht aus dem Jahr 2016 belegt, dass die RCMP in den fünf Monaten der Undercover-Aktion 911.000 kanadische Dollar (rund 600.000 Euro) für Überstunden von mindestens 200 Ermittlern ausgegeben hat. 

Ana Korody lebt heute in Surrey, British Columbia, und wagt sich nur noch selten weiter als bis zur Tankstelle, die 700 Meter von ihrer Wohnung entfernt ist. Sowohl Nuttall als auch Korody leiden unter PTBS und Angstzuständen. 

"Wenn sie jemals in der Lage gewesen wären, einen Terrorakt zu begehen, dann wurde ihnen das gründlich ausgetrieben“, sagt Miller. "Sie sind in jeder Hinsicht gebrochen – geistig, körperlich, mental und emotional.“ 

"Ich hoffe, dass sie vor Gericht Recht bekommen und dass das, was sie durchgemacht haben, zu etwas Gutem führt“, fügt sie hinzu. 

Changiz M. Varzi

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