Den Missbrauch des Islam enttarnen

Viele Bemühungen zur Widerlegung des Salafi-Dschihadismus bilden kein überzeugendes Gegennarrativ zum Missbrauch religiöser Schriften durch Extremisten. Dennoch gewinnt die Bekämpfung des Extremismus durch religiöse Gegendarstellungen in der islamischen Welt an Einfluss. Von Rachel Bryson und Milo Comerford

Von Rachel Bryson & Milo Comerford

Zwar verdeutlicht eine neue Untersuchung von über dreitausend verschiedenen religiösen Texten das hohe Potenzial des Mehrheitsislam zur Widerlegung extremistischer Auslegungen, aber die Studie stellt auch fest, dass es den Gegennarrativen nicht wirksam gelingt, Extremisten des Missbrauchs der Schriften und des Rückgriffs auf umstrittene Glaubensauffassungen zu überführen.

Die Analyse zeitgenössischer Texte wurde von Gruppen aus einem breiten ideologischen Spektrum erarbeitet. Sie zeigt, dass sich der Salafi-Dschihadismus – so wie ihn beispielsweise der IS und Al-Qaida vertreten – deutlich vom sunnitischen Mehrheitsislam unterscheidet.

Eine Stichprobe aus Tausenden von Dokumenten ergab, dass von 50 Koranversen, die salafistisch-dschihadistische Texte am meisten zitieren, nur acht Prozent auch in den Schriften des Mehrheitsislam häufig vorkommen.

Salafi-Dschihadismus – der selektive Blick

Zur Rechtfertigung seiner Ideologie greift der Salafi-Dschihadismus ausgiebig auf Zitate islamischer Schriften zurück. So beziehen sich extremistische Schriften fünfmal häufiger auf den Koran als übliche Texte. Dabei wählen sie aus einem vergleichsweise kleinen Verskorpus gezielt Koranzitate aus, die ihre ideologische Position zu untermauern scheinen.

Im Gegensatz dazu zitiert der Mehrheitsislam aus einem breiteren Spektrum von Versen und spiegelt somit eine breitere Thematik wider. Diese Form selektiver Schriftzitate macht islamistische und antimuslimische Ideologen gleichermaßen unglaubwürdig. Beide stützen sich schließlich auf das Argument, Extremisten besäßen mehr religiöse Legitimität als der Mehrheitsislam. Indem man diese selektiven und engstirnigen Auslegungen enttarnt, könnte man Extremisten daran hindern, die Hoheit über die Exegese von Texten zu gewinnen.

Die Analyse der in Texten vorherrschenden religiösen Vorstellungen zeigt, wie unterschiedliche Auslegungen auf unterschiedliche "Ideenpools" zurückgreifen. Die Untersuchung legt ebenso nahe, dass für Extremisten die legalistischen Elemente der Schrift mehr Bedeutung haben als persönliche Frömmigkeit.

IS-Terrorist Abdelhamid Abaaoud mit Flagge des "Islamischen Staates" und Koran; Foto: picture-alliance/dpa
Pervertierung des Korans, politische Instrumentalisierung des Glaubens: Zur Rechtfertigung seiner Ideologie greift der Salafi-Dschihadismus ausgiebig auf Zitate islamischer Schriften zurück. So beziehen sich extremistische Schriften fünfmal häufiger auf den Koran als übliche Texte. Dabei wählen sie aus einem vergleichsweise kleinen Verskorpus gezielt Koranzitate aus, die ihre ideologische Position zu untermauern scheinen.

Bemerkenswerterweise nutzen islamistische Hardliner Schriften und Vorstellungen in ihren Kerntexten auf ähnliche Weise wie Salafi-Dschihadisten. Hierzu zählen u. a. Hizb ut-Tahrir, Jamaat-e-Islami und einige Varianten der Muslimbruderschaft. Politische Mehrheitsparteien, wie die tunesische Ennahda und die türkische AKP, wurden nicht in die Analyse einbezogen, weil sie auf wesentlich weniger religiöse Inhalte zurückgreifen.

Diese ideologische Nähe zwischen Islamisten und Salafi-Dschihadisten und ihre Distanz zum Mehrheitsislam wird im jeweiligen Gebrauch des Koran besonders deutlich. In der Stichprobe der Studie überschneiden sich 64 Prozent der 50 meistzitierten Koranverse in den Texten der Islamisten mit denen der Salafi-Dschihadisten, während Islamisten und Mehrheitsislam nur eine Überschneidung von 12 Prozent aufweisen.

Diese Übereinstimmungen deuten nicht unbedingt auf ein gemeinsames ideologisches Fundament hin, da die Texte dieselben Zitate sehr unterschiedlich auslegen können. Doch wer die genannten Beziehungen versteht, kann wirksamer am wachsenden globalen Diskurs über das Zusammenspiel von gewalttätigem und gewaltfreiem Extremismus teilnehmen.

Den Dschihadisten die Diskurshoheit entreißen

Solche Erkenntnisse können auch zur Bewertung des Erfolgs religiös verwurzelter Gegennarrative zum Extremismus beitragen. Die Studie analysiert, auf welche Koranverse und Überlieferungen diese Gegennarrative rekurrieren, welche Konzepte sie anbieten oder anfechten und auf welche Exegese sie zurückgreifen. Die so gewonnenen Ergebnisse wurden dann mit den Darstellungen der Salafi-Dschihadisten und Islamisten verglichen. Deren Gegenbelege lassen sich grob in drei Richtungen einteilen: 1. Verurteilung der extremistischen Handlungen als unislamisch. 2. Anbieten friedlicher Alternativen und Auslegungen. 3. Direkte Thematisierung und Widerlegung extremistischer Argumente.

Allerdings gehen die meisten Bemühungen an den Schlüsselargumenten der Extremisten vorbei. Denn die Gegenargumentation greift gerade einmal 16 Prozent der von Salafi-Dschihadisten in der Stichprobe verwendeten Koranbezüge auf und stellt diese infrage.

Hieran wird deutlich, dass viel mehr getan werden kann, um islamistischen und dschihadistischen Ideologen die Hoheit über den religiösen Diskurs wieder zu entreißen. So fordert beispielsweise einer der in salafistisch-dschihadistischen Texten am häufigsten zitierten Verse (Sure 8, Al-Anfal, Vers 60) Muslime auf, sich auf den bewaffneten Kampf mit ihren Gegnern vorzubereiten. Schon der folgende Vers betont allerdings die Wichtigkeit einer friedlichen Lösung von Konflikten. Hier könnte man wirksam ansetzen.

Zwar scheinen Gegennarrative die religiösen Vorstellungen salafistisch-dschihadistischer Texte zunehmend erfolgreich zu thematisieren, greifen aber etwa 40 Prozent der ideologischen Schlüsselbegriffe des Salafi-Dschihadismus immer noch nicht auf. Die meisten Bemühungen konzentrieren sich ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit den Gewalterzählungen, wie beispielsweise Selbstmordattentaten.

"Nicht der Weg ins Paradies"

"Dies ist nicht der Weg ins Paradies" ist eine weit verbreitete Fatwa des mauretanischen Scheichs ʿAbdallāh ibn Baiya, der darin den Anspruch des IS auf Errichtung eines Kalifats verurteilt. Dies ist eines von nur wenigen Beispielen für eine Gegenerzählung, die sich direkt mit der religiösen Vorstellung eines islamischen Staates auseinandersetzt.

Die Al-Azhar in Kairo; Foto: picture-alliance/ZB
Gegenwind für radikal-islamische Islaminterpretationen: Die im Juni 2015 gestartete Online-Beobachtungsstelle der Kairoer Al-Azhar-Universität zur Extremismusbekämpfung verfolgt die Propaganda des IS und entkräftet extremistische Religionsauslegungen. So stellte sie beispielsweise ein Online-Feature ins Netz, das gängige Irrmeinungen über den Islam korrigiert.

In der muslimischen Mehrheitsmeinung gehen bekannte religiöse Institutionen und Führer zunehmend dazu über, extremistische Vorstellungen gezielt zu widerlegen, indem sie sich auf fundierte islamische Glaubensgrundsätze beziehen.

Die im Juni 2015 gestartete Online-Beobachtungsstelle der Kairoer Al-Azhar-Universität zur Extremismusbekämpfung verfolgt die Propaganda des IS und entkräftet extremistische Religionsauslegungen. So stellte sie beispielsweise ein Online-Feature ins Netz, das gängige Irrmeinungen über den Islam korrigiert.

Zudem werden terroristische Ideologien theologisch fundiert widerlegt. Die Beobachtungsstelle weitet derzeit ihre Arbeit aus und unterrichtet junge Imame in der Nutzung sozialer Medien als Mittel, terroristische Narrative in den eigenen Gemeinschaften wirksam zu entkräften. Politische Führer in Ländern mit muslimischer Mehrheit verweisen zunehmend auf die Unvereinbarkeit extremistischer Weltanschauungen mit gutem staatsbürgerlichem Verhalten.

Anlässlich des Nationalfeiertags der Vereinigten Arabischen Emirate betonte Kronprinz Muhammad bin Zayid Al Nahyan "die dringende Notwendigkeit, dass die arabischen Völker und insbesondere die jungen Menschen erkennen, dass [extremistische] Weltanschauungen das schöne und leuchtende Gesicht unseres Glaubens verstümmeln".

Gegen extremistische "Perversionen" des Islam

Das im Mai 2017 eröffnete Etidal Center in Saudi-Arabien widmet sich der Koordination der gemeinsamen Bemühungen von Regierungen und internationalen Organisationen zur Extremismusbekämpfung. Hunderte von Analysten wurden beauftragt, extremistische "Perversionen" des Islam online zu identifizieren und zu entlarven.

Religiöse Beratung und Islamismusprävention in einer Metro-Station in Kairo; Foto: DW
Neue Ansätze zur Islamismusprävention in Ägypten: Seit einem Jahr bieten Al-Azhar-Gelehrte religiöse Beratungen im öffentlichen Raum, wie hier in einer Metro-Station in Kairo an. Als "theologische Streetworker" und mobile Anti-Radikalisierungs-Einheit wollen sie die Menschen an ihren Freizeitstätten erreichen. Das neue Motto der über tausend Jahre alten Universität, die sich als eine der wichtigsten Rechtsautoritäten im sunnitischen Islam sieht, lautet: "Raus aus den Moscheen, hinaus auf die Straße".

Obwohl sich einige Gegennarrative direkt auf die Schriften und Konzepte gewalttätiger extremistischer Gruppen beziehen, haben diejenigen, die eine gewalttätige Haltung einnehmen, oft lautere Stimmen. Extremistische Deutungsmuster werden in der Regel überzeugend vorgebracht, sind in sich schlüssig und werden wirksam kommuniziert.

Als Gegenmaßnahme versuchen es muslimische Stimmen mit einer umso heftigeren Zurückweisung einer Verzerrung ihres Glaubens. Initiativen wie das Sawab Center in Abu Dhabi bieten ihr Know-how in strategischer Kommunikation mit den Zielgruppen an und unterstützen führende Köpfe des gemäßigten Islam dabei, ihre Argumente wirksam über Medien und Plattformen darzulegen.

So initiierte das Sawab Center im November 2017 eine gemeinsame Twitter-Kampagne mit der Al-Azhar-Beobachtungsstelle zur Betonung der Barmherzigkeit und Toleranz als islamische Werte. Die religiösen Reaktionen an der Basis stehen allerdings immer noch vor Herausforderungen, wenn es darum geht, Ressourcen zu sammeln, effektive Plattformen zu nutzen und die Bemühungen mit Partnern zu koordinieren.

In den westlichen Ländern sorgen verschiedene muslimisch geführte zivilgesellschaftliche Initiativen – wie das von Großbritannien geförderte Projekt Imams Online  – ebenfalls für glaubwürdige und gut zugängliche Gegennarrative.

Indem immer mehr Akteure vor Ort eine extremistische Auslegung der islamischen Schrift entkräften, können sich Behörden von dem Vorwurf distanzieren, ihre Bemühungen zur Abwehr destruktiver Ideologien seien ein Versuch, einen staatlich sanktionierten Islam zu kultivieren; eine Wahrnehmung, die lediglich den Extremisten in die Hände spielt.

Angesichts der zunehmenden öffentlichen Debatten über islamistischen Extremismus könnte es sinnvoll sein, direkt auf diejenigen Verse und Überlieferungen zu verweisen, die von Extremisten am häufigsten zitiert werden, und dann alternative Auslegungen vorzunehmen.

Rachel Bryson und Milo Comerford

© Carnegie Endowment for International Peace 2018

Aus dem Englischen von Peter Lammers