Wer mit Hamas nicht spricht …

Die Lage im Nahen Osten hat sich dramatisch zugespitzt. Schuld trägt nicht nur die Hamas, sondern auch die EU sowie andere internationale Geber – mit ihrem Stopp der Finanzhilfen haben sie die Krise zusätzlich verschärft. Ein Kommentar von Bettina Marx

Es war ein Bild mit hoher Symbolkraft. Nach wochenlanger Abriegelung wurde Mitte Mai erstmals wieder Mais von Israel in den Gazastreifen geliefert: Durch ein Loch in der dicken Betonmauer am Grenzübergang Karni lief ein dünner Strom von Maiskörnern über ein Förderband.

Das Getreide wurde in einen Lastwagen geschüttet, der auf der anderen Seite der Grenze stand. Karni ist der einzige Warenumschlagplatz zwischen Israel und dem Gazastreifen. Wie durch eine Klappe in einer Zellentür werden den Palästinensern Lebensmittel und dringend nötige Rohstoffe hereingereicht.

Wirtschaftsboykott mit verheerenden Folgen

Der Wahlsieg der Hamas hat einen Wirtschaftsboykott mit verheerenden Folgen für die besetzten palästinensischen Gebiete ausgelöst. Seit Ende Januar bis Mitte Mai war der Grenzübergang 70 Tage lang völlig geschlossen.

An den wenigen Tagen, an denen er auf internationalen Druck hin geöffnet war, kamen trotzdem nur wenige Waren in den Gazastreifen. Manchmal wurden nur fünf Lastwagen abgefertigt – an besseren Tagen waren es 150. Geplant sind eigentlich 400 pro Tag. Die Folge sind dramatische Engpässe. An manchen Tagen fehlten in dem Gebiet mit der höchsten Geburtenrate der Welt Milch und Babynahrung.

Dass die Europäische Union und andere internationale Geber ihre Finanzhilfen stoppten, hat die Krise zusätzlich verschärft. Gehälter, die bislang von der EU getragen wurden, konnten nicht mehr bezahlt werden. Rund 165 000 Angestellte im öffentlichen Dienst – Lehrer, Verwaltungsangestellte, Ärzte und Sicherheitskräfte – hängen von diesem Geld direkt ab. Sie versorgen damit ausgedehnte Familien. Normalerweise leben rund 1,5 Millionen Palästinenser von ihren Gehältern.

Wachsende Radikalisierung und Anarchie

Die zunehmende Verarmung und Aussichtslosigkeit aber führt zu weiterer Radikalisierung und zu wachsender Anarchie. Viele Menschen sind unzufrieden und verzweifelt. Die Anhänger der bei der Parlamentswahl abgewählten Fatah-Bewegung wollen ihre Niederlage nicht akzeptieren.

Sie fühlen sich durch den internationalen Boykott bestätigt und liefern sich nun mit den Islamisten einen erbitterten Machtkampf, der immer wieder gewaltsam eskaliert und vor allem den Gazastreifen an den Rand eines Bürgerkriegs bringt.

Die Hamas-Regierung aber steht vor einem unlösbaren Dilemma. Sie soll sich nicht nur schleunigst von ihrem Wahlprogramm und ihrer Israel-feindlichen Ideologie verabschieden – und das ohne Verhandlungen oder Gegenleistung. Obendrein wird von ihr erwartet, dass sie in den palästinensischen Gebieten für Ruhe und Ordnung sorgt sowie Terroranschläge und Raketenangriffe auf Israel verhindert.

Gleichzeitig werden ihr aber die Mittel dazu aus der Hand geschlagen. Sie kann weder eigene, loyale Sicherheitskräfte aufbauen, noch die von der Vorgängerregierung rekrutierten Polizisten bezahlen. Regierungschef Ismail Haniye und seine Minister können noch nicht einmal den Gazastreifen verlassen, um ihre Autorität auch im Westjordanland zur Geltung zu bringen.

Der Vorschlag des Nahostquartetts, die Finanzhilfe begrenzt wieder aufzunehmen, sie aber an der Regierung vorbei direkt den Menschen zukommen zu lassen, löst die Probleme nicht. Sollten die Gelder über den Präsidenten der Autonomiebehörde Mahmoud Abbas ausgezahlt werden, dann herrschen in den palästinensischen Gebieten wieder Zustände wie unter Yassir Arafat.

Abrechnung mit der Fatah

Der verstorbene PLO-Chef und erste Präsident der Autonomiebehörde bezahlte ihm loyale Gefolgsleute nach Gutdünken – und zweigte dabei auch Geld in dunkle Kanäle und seine eigenen Taschen ab.

Israel und die internationale Staatengemeinschaft haben von den Palästinensern jahrelang gefordert, dass sie demokratische Institutionen aufbauen, das Amt eines Ministerpräsidenten schaffen und Wahlen abhalten. Nun haben die Palästinenser all diese Forderungen erfüllt und eine Regierung gewählt, von der sie sich mehr versprechen als von der korrupten Fatah-Führung.

Statt die Palästinenser für diese Wahl zu bestrafen und sie damit in die Arme extremistischer Gruppen zu treiben, sollte man sofort Kontakt mit der neuen Regierung aufnehmen, ihr Unterstützung anbieten und sie zu Verhandlungen mit Israel drängen. Denn wer mit der Hamas jetzt nicht sprechen will, der wird sich über kurz oder lang mit dem Terror von Al-Kaida auseinandersetzen müssen.

Bettina Marx

© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 6/2006

Dr. Bettina Marx ist Korrespondentin des ARD-Hörfunks in Tel Aviv.

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