"Ich habe auch Angst"

Headshot of Palestinian writer Sayed Kashua wearing an open-necked shirt and jacket against a dark background
„Niemand spricht darüber, wie beängstigend es ist, jetzt Palästinenser zu sein. Das kann einen den Job kosten“, sagt der Schriftsteller Sayed Kashua. (Foto: picture-alliance/Effigie/Leemage)

Ohne Hoffnung: Der Schriftsteller Sayed Kashua spricht über die Furcht der Palästinenser, sich zum Krieg zu äußern, die prekäre Lage arabischer Israelis und die Grenzen von Literatur.

Interview von Lena Bopp

Herr Kashua, der Krieg zwischen Israel und der Hamas ist auch ein Kampf, in dem sich zwei sehr unterschiedliche Perspektiven gegenüberstehen: Die Araber werfen dem Westen vor, das Leben der Palästinenser gering zu schätzen. Im Westen stößt man sich an antisemitischen Ausfällen. Sie sind palästinensischer Staatsbürger Israels. Wie blicken Sie auf diesen Konflikt?

Sayed Kashua: Hauptsächlich bin ich sprachlos und wirklich traurig und frustriert und hoffnungsloser denn je. Ich dachte, dass der Gazakrieg 2014 das Maximum an Hoffnungslosigkeit war, das ich fühlen konnte, aber ich bin auch jetzt wieder überrascht, wie hässlich die Realität werden kann. Ich wechsle zwischen Al Jazeera und israelischen Zeitungen, ich schaue CNN und MSNBC und lese die „New York Times“, wobei mir meine Familie und meine Kinder sagen, dass ich damit aufhören soll, weil es nur frustrierend ist.

Sie haben einmal beklagt, dass palästinensische Stimmen nicht mehr gehört werden. Warum ist das Ihrer Meinung nach der Fall?

Kashua: Ich bin mir nicht sicher. Es gibt wunderbare Wissenschaftler, Politiker und Aktivisten, Palästinenser mit perfektem Englisch, die gerne reden würden. Aber palästinensische Stimmen sind selten zu hören. Ich schaue heute Fernsehen, und die Ereignisse werden von Militärsprechern, Politikern und von amerikanischen Kriegsexperten und Analysten, die im Nahen Osten gedient haben, erklärt. Sie sehen das durch ihr Prisma. Das ist einfach unglaublich.

Eine Art Verteidigungsmechanismus

Ehrlich gesagt, wir bemühen uns sehr, mit Palästinensern in Kontakt zu treten, aber sie melden sich nicht zurück oder wollen nicht reden. Es wird vermutet, dass sie Angst haben, weil sie die westliche Sichtweise auf den Konflikt für voreingenommen halten.

Kashua: Ich habe auch Angst! Ich wurde gebeten, Artikel für Zeitungen zu schreiben, und das macht mir Angst, aber ich habe beschlossen, dass dies das Mindeste ist, was ich tun kann. Die Sache ist, dass hier in den Vereinigten Staaten, wo ich lebe, viel über die Angst der israelischen Gemeinschaft gesprochen wird. Aber niemand spricht darüber, wie beängstigend es ist, jetzt Palästinenser zu sein. Das kann einen den Job kosten. Ich habe Freunde, die an kleinen Protesten hier in Boston teilgenommen haben und die mit Covid-Masken und Kapuzen kamen aus Angst, dass die Universitäten sie entlassen könnten – weil sie an einer Demonstration teilgenommen haben, die einen Waffenstillstand forderte. Für Palästinenser in Israel ist die Situation noch viel komplizierter. Man hat Angst, seine Meinung zu sagen.

Ich denke, ein großes Problem ist, dass das Massaker vom 7. Oktober zwar oft verurteilt, aber sofort auch erklärt oder gerechtfertigt wurde. Warum ist es nicht möglich, das Massaker uneingeschränkt als Massaker zu bezeichnen?

Kashua: Es gibt keine Rechtfertigung für das Töten von Zivilisten. Es ist nicht gerechtfertigt, einen Menschen zu töten. Aber ehrlich gesagt, als ich am 7. Oktober die allererste Nachricht hörte, in der noch von 22 getöteten Israelis die Rede war, da dachte ich: Oh mein Gott, sie werden mindestens 5000 Palästinenser töten. Und als ich erfuhr, dass Hunderte von Israelis getötet worden waren . . . ich weiß es nicht. Jetzt sehe ich die Konvois von Zehntausenden Palästinensern, die den nördlichen Gazastreifen verlassen, und ich glaube nicht, dass sie jemals zurückkommen werden. In einigen israelischen Medien wird darüber schon als „die Nakba 2023“ gesprochen. Einfach so. Aber was das für Palästinenser bedeutet, Zehntausende von Flüchtlingen zu sehen, die teils zum zweiten oder dritten Mal auf der Flucht sind, das darf man nicht vergessen. Wenn ich mir die Palästinenser vorstelle, die diese schreckliche Tat am 7. Oktober begangen haben, dann sehe ich Menschen, die vermutlich um das Jahr 2000 geboren worden sind. Für sie ist Israel die Armee, die Siedler, die sie ins Gefängnis sperren – denn das ist Gaza für Palästinenser. Wahrscheinlich ist es aus palästinensischer Sicht eine Art Verteidigungsmechanismus, das Massaker in einen Kontext stellen zu wollen.

Die Hoffnung verloren

Sie sind ein arabischer Israeli. Sie wurden an der Grenze zum Westjordanland geboren und besuchten ein hebräisches Internat. Wo positionieren Sie sich in der Gesellschaft?

Kashua: Ich bin ein palästinensischer Bürger Israels. Ich positioniere mich jetzt in Boston. Bei meinem letzten Fernsehprojekt ging es um die zweisprachige Schule in Jerusalem: Palästinenser und Israelis, die zusammenleben und versuchen, das Leid, den Schmerz der jeweils anderen zu verstehen und eine gemeinsame Sprache zu finden. Sie sprechen tatsächlich eine Mischung aus Arabisch und Hebräisch. Ich dachte immer, das sei die Aufgabe – zu versuchen, eine Art von Verständnis zu finden. Aber das ist irrational. Es ist Science-Fiction.

Sie haben als Schriftsteller und Journalist tatsächlich immer versucht, die Geschichten der Palästinenser zu erzählen und sie auf Hebräisch niederzuschreiben, damit die Juden die palästinensische Seite verstehen könnten.

Kashua: Ja, das stimmt. Aber in meiner akademischen Arbeit konzentriere ich mich jetzt auf die Frage, wie man die Hoffnung aufrechterhalten kann. Ich beschäftige mich mit der Hoffnung in der palästinensischen Literatur nach der „Nakba“. Es gibt ein wunderbares Buch dazu mit dem Titel „Hoffnung ohne Optimismus“. Aber die Arbeit wird immer schwieriger.

Zweifel an der Macht des Schreibens

In Ihren Kolumnen für „Haaretz“ haben Sie die Demütigungen, denen Sie und andere Palästinenser in Israel ausgesetzt waren, oft auf humoristische, ironische und sarkastische Weise ins Wort gesetzt. Können Sie Ihre Erfahrungen näher erläutern? Und was hat Sie schließlich dazu gebracht, das Land zu verlassen?

Kashua: Zunächst einmal: Ich war irgendwann ein bekannter Schriftsteller, sodass es für mich etwas einfacher war, denke ich. Aber ich habe die Hoffnung völlig verloren. Ich wollte nicht, dass meine Kinder in Jerusalem aufwachsen. 2014 habe ich diese Niederlage akzeptiert.

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Aber was war passiert? Warum hat es nicht funktioniert?

Kashua: Bitte geben Sie mir nicht die Schuld.

Ich gebe Ihnen nicht die Schuld.

Kashua: Ehrlich gesagt, ich zweifle sehr an der Macht des Schreibens. Ich habe nicht das Geld und die Mittel und die Armeen, um irgendetwas zu verändern. Schreiben war das Einzige, was ich tun konnte. Aber auch hier muss ich zugeben, dass ich große Angst hatte. Ich schrieb innerhalb des Rahmens, von dem ich wusste, dass er für die, sagen wir mal, linken Leser und Autoren von „Haaretz“ akzeptabel ist. Ich wusste immer, dass ich meinen Job verlieren könnte, wenn ich es zu weit treiben würde. Ich hatte keine andere Einkommensquelle, wie alle Palästinenser in Israel. Wir haben kein palästinensisches Kapital in Israel. Wir haben nicht das Geld, wir haben nicht die Institutionen. Das ist also immer eine Bedrohung für dich als Schriftsteller. Und es ist sehr demütigend, weil ich mir des Risikos immer bewusst bin. Ich schreibe mit Angst. Die Herausforderung bestand darin, irgendwie einen Weg zu finden, die schreckliche Realität zu fassen, aber auf eine für den israelischen Leser immer noch akzepta­ble Weise. Das ist die Geschichte meines Schreibens und meines Lebens. Das Verheerende und Demütigende daran ist, sich dieser Angst bewusst zu sein. Ich entschuldige mich manchmal sogar dafür, dass ich so arbeite. Der Humor war tatsächlich dazu da, um meine Figuren, mich selbst und die Geschichten zu vermenschlichen. Ich habe den Witz benutzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Und um dann eine traurige Geschichte über unsere Gegenwart zu erzählen. Der Humor war die Fahrkarte, nicht das Ziel. Er war das Ticket zum Überleben.

Wie wurde Ihre Entscheidung, ausschließlich auf Hebräisch zu schreiben, denn in der palästinensischen Gemeinschaft aufgenommen?

Kashua: Manchmal wurde ich kritisiert, und ich verstehe das, weil Sprache mit Identität und Nationalität zusammenhängt. Man kritisierte mich wegen der Verwendung des Hebräischen, aber nicht wegen der Inhalte meiner Geschichten. Ist es legitim, als arabischer Israeli auf Hebräisch zu schreiben? Bedeutet das zwangsläufig, dass ich mich an die Israelis wende? Was ist der Preis, den ich dafür zahle? Wie sehr zensiere ich mich damit selbst automatisch, auch unbewusst, durch die Verwendung des Hebräischen? Das sind die Fragen, die ich mir immer wieder stelle.

Und die Antworten?

Kashua: Irgendwann entdeckte ich, dass ich in einer Art Widerstand gegen die Sprache selbst schreibe, ich fordere die Sprache heraus. Die Leute haben immer gesagt, ich würde Hebräisch mit palästinensischem Akzent schreiben. Und das ist meine Hoffnung – dass meine Stimme als Palästinenser und mein Akzent als Palästinenser in meinem hebräischen Schreiben vorkommen.

Hegen Sie irgendwelche politischen Hoffnungen für die Zukunft? Manche sagen, dass der Krieg zumindest den Weg für neue Gedanken und Gespräche über eine Zweistaatenlösung öffnen könnte.

Kashua: Ja, es gibt Stimmen in Palästina, die sagen, dass nach dem, was jetzt passiert, die westliche Welt der palästinensischen Frage Aufmerksamkeit schenken wird, dass es nach einem Waffenstillstand eine Art von Lösung geben wird und dass das palästinensische Volk es verdient, ein Mitspracherecht zu haben. Aber nein, nein, es wird sich nichts ändern. Es gibt keine westliche Stimme und keine arabische Stimme, die uns unterstützt – ich spreche nicht von den Menschen, sondern von den Regierungen. Es gibt keine israelische Stimme, auf die man zählen oder mit der man zusammenarbeiten könnte, um die Demütigung, Palästinenser zu sein, zu beenden. Ich glaube, Israel zielt vor allem auf die palästinensische Hoffnung. Es tötet die palästinensische Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das heißt nicht, dass ich ein so schreckliches Verbrechen wie am 7. Oktober rechtfertigen will, ganz und gar nicht. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die ethische Haltung von jemandem, der Lebensmittel kaufen kann und über Strom und Internet verfügt, dieselbe ist, die man von einer Person erwarten kann, die nicht weiß, wie sie ein Kilo Tomaten für ihre Familie in Gaza kaufen soll. Es sind also wahrscheinlich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt.

Interview: Lena Bopp

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023