Wenn die Herkunft entscheidet

Nach wie vor ist Kritik an religiösen und gesellschaftlichen Konventionen im arabischen Diskurs ein Tabu. Das muss sich dringend ändern, damit wir in Zukunft einen Menschen nicht mehr aufgrund seiner Herkunft beurteilen, sondern danach, wie er handelt, schreibt der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi in seinem Essay.
Nach wie vor ist Kritik an religiösen und gesellschaftlichen Konventionen im arabischen Diskurs ein Tabu. Das muss sich dringend ändern, damit wir in Zukunft einen Menschen nicht mehr aufgrund seiner Herkunft beurteilen, sondern danach, wie er handelt, schreibt der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi in seinem Essay.

Kritik an religiösen und gesellschaftlichen Konventionen ist im arabischen Diskurs nach wie vor ein Tabu. Das muss sich dringend ändern, damit wir in Zukunft einen Menschen nicht mehr aufgrund seiner Herkunft beurteilen, sondern danach, wie er handelt, schreibt der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi in seinem Essay.

Essay von Khaled al-Khamissi

Wir lauschen der volkstümlichen Geschichte vom Stamm der Bani Hilal: "Die Zeit der Ehrenhaften ging ihrem Ende entgegen. Auf sie folgte die Herrschaft der Nichtswürdigen. Ein unfähiger Dienstbote wurde Nachfolger der bedauernswerten Könige“.  

Der Zuhörer entnimmt der Erzählung, dass sich die Welt in "Ehrenhafte“ und "Nichtswürdige“ teilt. Während er dem Murmeln des Erzählers lauscht, denkt er über diese Einteilung nach und stimmt ihr schließlich zu.



Nach Hause zurückgekehrt schaltet er das Radio ein und hört, wie der populäre ägyptische Sänger Mohammed Taha sein Volkslied "Auf die Herkunft kommt es an“ singt. Darin heißt es: "Die Liebe liegt im Blut, sie ist nicht weiß, noch ist sie braun“. Wieder nickt unser Zuhörer bestätigend: Stimmt, die Liebe liegt im Blut. Die Herkunft eines Mädchens ist wichtig.



Taha singt weiter: "Sie nimmt keine Schande auf sich, und wenn man sie erschießen würde“. Natürlich, denkt unser Zuhörer, eine junge Frau von namhafter Herkunft würde die Ehre ihres Mannes niemals beflecken, ganz anders als ein Mädchen von unehrenhafter Abstammung.  

Am nächsten Tag geht unser Zuhörer in die Moschee, wo der Scheikh über die gute Herkunft des Quraisch-Stamms spricht und dann ein Hadith (Überlieferung der Sprüche und Handlungen des Propheten Mohammed, Anm. der Red.) zitiert: "Als der Prophet Mohammed einmal ein Haus betrat, fragte er: Sind hier nur Angehörige der Quraisch? Die Antwort lautete: Nein, der Sohn der Schwester gehört nicht dazu. Der Prophet antwortete: Der Sohn einer Schwester gehört zum Stamm dazu. So ist das bei den Quraisch: Wenn man sie anfleht, zeigen sie Erbarmen, wenn sie herrschen, so herrschen sie gerecht und wenn sie teilen, dann teilen sie redlich. Der Fluch Gottes, der Engel und aller Menschen trifft diejenigen, die nicht so handeln“.  Wer zum Stamm der Quarish gehört, hat einen edlen Charakter, will uns das Hadith sagen.

Protest in Tunis gegen Rassismus; Foto: Fauque Nicolas/Images de Tunis/ABACA/picture-allianceie/
Der tunesische Präsident Kais Saied sprach Anfang März davon, dass schwarze Migranten in Tunesien, "die demografische Zusammensetzung“ des Landes verändern wollten. Das Land sollle rein afrikanisch werden und seine muslimisch-arabische Identität verlieren. Diesem Phänomen müsse ein Ende bereitet werden. Daraufhin brach eine massive Welle rassistisch motivierter Gewalt gegen Migranten aus Afrika südlich der Sahara los. Der Präsident hatte gezielt in der tunesischen Gesellschaft vorhandene rassistische Einstellungen bedient, um von der schlechten Wirtschaftslage abzulenken.

Herkunft definiert einen Menschen 

Unser Zuhörer ist einer wie ich, er ist wie die meisten Araber. Jeden Tag hören wir tradierte Redewendungen, Weisheiten und Ermahnungen. Wir lesen, dass eine Person einer bestimmten Gruppe, Familie oder einem Stamm angehört und verinnerlichen, dass allein diese Zugehörigkeit den Charakter und das Wesen dieser Person bestimmen und nicht ihre persönliche Leistung. Dieser Diskurs entspringt rückwärtsgewandten religiösen Vorstellungen und den Argumentationsmustern des politischen Islam. Er zeigt sich in zahlreichen Texten im Internet und wird dort immer wieder reproduziert. 

Das beginnt schon bei der Erzählung über Noah - laut der koranischen Überlieferung unser aller Stammvater. Noahs Söhne sollen danach die Vorväter unterschiedlicher Völker gewesen sein: der Assyrer, Armenier, Hebräer und Araber. Sie alle gehen demnach auf Noahs Sohn Sem zurück, von Ham stammen die Völker Ägyptens und Afrikas ab und Jafet schließlich sei der Vorvater der Europäer und Perser. Kanaan dagegen habe keine Nachkommen gezeugt.  

In manchen jüdischen Überlieferungen gibt es eine Legende, der zufolge Ham seinen Vater eines Tages nackt antraf und seinen beiden Brüdern davon berichtete. Als Noah davon erfuhr, wütete er und bat Gott, Hams Nachkommen in Afrika seinen Segen zu verweigern. Aufgrund dieser Herkunft als Nachkommen Hams - der sah, was er nicht sehen sollte - sind wir Ägypter von Anfang an mit einem Fluch belegt. 

Eines der ersten Bücher, die ich gelesen habe, war die vierteilige Geschichte des vorislamischen Poeten Antarah bin Shaddad (525–608). Das Buch war ein alter, abgewetzter Band aus der Bibliothek meines Großvaters und es ging in ihm ebenfalls um die gute Herkunft. Antarah ist ein Nachkomme Sems, wurde aber von einer schwarzen Mutter geboren - die durch ihre Abstammung von Ham verflucht war. Antarah, der ihre Hautfarbe erbte, gelingt es, die gute Herkunft seiner unbefleckten väterlichen Vorfahren unter Beweis zu stellen und seine Mühen werden schließlich durch die Hochzeit mit seiner Cousine Hamia gekrönt, deren Blut makellos ist.

Der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi; Foto: Mahmud Hams/AFP/Getty Images
Khaled al-Khamissi, geb. 1962 in Kairo, ist ein ägyptischer Journalist und Autor. Bekannt wurde er im deutschsprachigen Raum mit seinen Erzählungen "Im Taxi“, deutsch 2011 im Lenos Verlag erschienen, die auf humorvolle Weise die Stimmung in Kairo vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings beschreiben. In seinen Essays greift er immer wieder kritisch gesellschaftliche Themen und Entwicklungen auf.



Interessanterweise findet sich die gleiche Thematik auch bei Pferden: Araber-Pferde werden in Vollblüter und niederwertige Rassen eingeteilt. Dazu wird die Geschichte überliefert, dass es den Arabern aufgrund von Kriegs- und Fluchtgeschehen nicht immer gelang, die reinrassigen Pferde von den übrigen zu trennen. Weil aber eine Unterscheidung unabdingbar war, ordneten Könige und Emire an, alle Pferde zusammenzutreiben, sie mit Schlägen zu quälen und ihnen anschließend Gras zum Fressen anzubieten. Diejenigen Pferde, die zu fressen begannen, seien niederwertig, die anderen dagegen die reinrassigen. 

Aber auch Hunde sind von diesem Denken betroffen. Beispielsweise adoptierte meine Tochter einen Straßenhund, der unter einem Auto schlafend in Kairo gefunden worden war. Einige meiner Bekannten reagierten mit Unverständnis auf die Aufnahme eines solchen Hundes ohne Stammbaum.  

"Kein Unterschied außer in der Gottesfurcht“ 

Was aber ist mit "Herkunft“ bzw. "Abstammung“ (arab. "asl“) eigentlich gemeint? Geht es um die Zugehörigkeit zu einer Herrscherfamilie? Dann hätte auch der Sohn eines kleinen Beamten eine namhafte Herkunft. Oder sind wohlhabende Familien gemeint? Tatsächlich bezog sich "asl“ lange Zeit auf die ethnische Herkunft. Doch im Islam heißt es: "Es gibt keinen Unterschied zwischen Arabern und Nichtarabern außer in der Gottesfurcht“. Statt ethnischer Herkunft kommt es nun allein auf die Religion an und darauf, wie ernst man sie nimmt. 

Nach wie vor spielt es also keine Rolle, welche persönlichen Eigenschaften und beruflichen Leistungen der Einzelne aufzuweisen hat. Der frühere ägyptische Präsident Mohammed Mursi (2012-2013) verwendete beispielsweise den Ausdruck "Enkel von Affen und Schweinen“, als er sich auf Zionisten und Siedler bezog, die palästinensischen Boden besetzt hielten. Denn auch in der Tierwelt werden Unterschiede gemacht und einem Schwein beispielsweise kommt im arabischen Raum ein niedrigerer Rang zu als einem Pferd.



In islamistischen Schriften werden politische Gegner häufig verunglimpft, indem man ihnen jüdische Wurzeln zuschreibt und sie schon allein dadurch als nationale Verräter oder Protagonisten einer islamfeindlichen Politik stigmatisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist der früher ägyptische Landwirtschaftsminister Yousef Wali, von dem mir oft erzählt wurde, er sei jüdischer Herkunft. Anschließend geht es in diesen Gesprächen stets um den Schaden, den Youssef Wali aufgrund der Herkunft seiner Mutter in der Agrarpolitik anrichten würde. 

Der ehemalige Luftwaffenoffizier Abdelmonim Abdelraouf, einer der Freien Offiziere um Gamal Abdel Nasser und Mitglied der Muslimbruderschaft, berichtet in seinen Memoiren von einem Treffen mit dem früheren ägyptischen Präsidenten Muhammad Nagib im Jahr 1979. Darin sei es auch darum gegangen, dass Nasser angeblich von aus dem Jemen eingewanderten Juden abstamme.

An anderer Stelle schreibt er, Nasser sei Mitglied der kommunistischen ägyptischen Organisation "Demokratische Bewegung für die Nationale Befreiung“ gewesen und vergisst nicht, auf deren jüdischen Gründer Henri Curiel (1914-1978) zu verweisen. 

Auch Hafez al-Assad, Muammar al-Gaddafi und vielen anderen wurden jüdische Wurzeln nachgesagt. Ein Zusammenspiel von gesellschaftlichen und religiösen Konventionen hat die Bedeutung von Verwandtschaft, Abstammung und Religiosität festgeschrieben. Damit ist es offensichtlich die Herkunft, die dauerhaft darüber entscheidet, wie das Handeln eines Menschen zu beurteilen ist. 

 

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Wegen der Herkunft verunglimpft

Gut illustriert wird diese Einstellung auch am Beispiel von Gefängnisinsassen. Ein Polizeioffizier erzählte mir einmal, die kriminelle Natur liege den Häftlingen im Blut, sie sei angeboren und unheilbar mit deren minderwertiger Abstammung verbunden. Ein anderes Mal unterhielt ich mich mit dem Sohn eines Großgrundbesitzers, der die Ansicht vertrat, dass die ägyptischen Bauern - wie alle Sklaven der Welt - ausgesprochen listig und durchtrieben seien, was auf ihren gegenüber den Eigentümern minderwertigen Status zurückzuführen sei.



In diesem Zusammenhang kam er auch auf die seiner Meinung nach problematische Herkunft Nassers sprechen. Dessen Aufstieg sei nur durch den verhängnisvollen Fehler der damaligen ägyptischen Regierung möglich gewesen, die Armee ohne Unterschied für alle soziale Schichten zu öffnen. 

In seinem Buch "Herbst der Wut“ schreibt Mohammed Hassanein Haikal, der frühere ägyptische Präsident Anwar al-Sadat heiße eigentlich "Sadati“ und nicht "Sadat“. Mit nur einem Buchstaben wird hier im Arabischen aus der mit "Herr“ assoziierten Bedeutung des Wortes "Sadat“ ein "zu diesem Herrn gehörig“ in "Sadati“. So spielt der Autor auf die vermeintlich minderwertige Abstammung des ägyptischen Ex-Präsidenten an. 

Zudem verweist Haikal auf die sudanesische Mutter Sadats, deren Großeltern noch Sklaven gewesen seien. Es sei dahingestellt, ob das der Wahrheit entspricht oder nicht. Von Bedeutung ist allein, dass damit eine minderwertige Herkunft suggeriert wird. Natürlich könnte man einwenden, Haikal habe verdeutlichen wollen, dass dieser familiäre Hintergrund Einfluss auf persönliche Entwicklung und das politische Handeln Sadats gehabt hätte. Tatsächlich aber ging es ihm allein darum, den früheren ägyptischen Präsidenten aufgrund seiner Herkunft zu verunglimpfen.  

Hätte er sich nicht darauf beschränken können, Sadats Handeln zu kritisieren? Wäre es nicht damit getan gewesen, die Politik Gamal Abdel Nassers zu kritisieren, anstatt auf seine angeblichen religiösen und familiären Wurzeln anzuspielen? Oder hätte sich Mohammed Mursi nicht besser darauf beschränkt, über die Besatzung Palästinas durch jüdische Siedler zu sprechen, anstatt auf die Herkunft der Vorväter dieser Besatzer einzugehen? 

Zweifelsohne spielen in der Sozialisierung eines Menschen zahlreiche Faktoren eine Rolle. Individuelle Lebensbedingungen, soziales Umfeld, intellektuelle und mentale Fähigkeiten sowie politische und ökonomische Umstände sind prägend für sein Denken und Handeln. Aber warum ist in unserem arabischen Diskurs so viel von Herkunft und Abstammung die Rede? Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Eine fundierte Erklärung kann es nur dann geben, wenn wir damit beginnen, das gesellschaftliche und religiöse Erbe unserer Region genauer unter die Lupe zu nehmen. 

Denn hier liegt der Kern jener furchtbaren rassistischen Denkmuster, die Menschen in Schubladen stecken. 

Wir sollten unbedingt einen Weg finden, dieses gesellschaftlich-religiöse Erbe auch in seinen Wurzeln zu kritisieren, damit wir in Zukunft einen Menschen nicht mehr aufgrund seiner Herkunft, sondern auf der Basis dessen beurteilen, was er tatsächlich tut. 

Khaled al-Khamissi



© Qantara.de 2023

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk.