Der Zauber palästinensischer Stickerei jetzt online

Woman sits in front of a screen displaying a cross-stitch pattern of a red flower
Zain Masri hat eigenhändig rund 1.000 Stickerei-Muster digitalisiert, die sich jetzt herunterladen und ausdrucken lassen. (Foto: Dank an Zain Masri)

Die preisgekrönte Unternehmerin Zain Masri hat traditionelle palästinensische Kreuzstichmuster digitalisiert. Nun stehen sie zum Download bereit. Sie bergen erstaunliche Geheimnisse und erzählen komplexe Geschichten.

Von Jennifer Holleis

Gut erinnert sich Zain Masri an das aufregende Gefühl, als sie im Alter von sieben Jahren ihr erstes Kreuzstichmotiv fertigstellte. "Während der Ferien bei meiner Großmutter in Jordanien war die Stickerei über Jahre meine Lieblingsbeschäftigung", erzählt die 31-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Welle (DW).

Doch mit den Jahren verlor die Stickerei für die junge Frau immer mehr an Bedeutung. Erst während der Corona-Pandemie knüpfte die in Dubai lebende Marketingexpertin wieder an die familiäre Tradition des Kreuzstichs mit palästinensischen Motiven an.

"Ich habe mich in dieser Zeit von digitalen Stickgemeinschaften inspirieren lassen", erzählt sie der DW. Dabei erkannte sie, dass viele Interessierte hochauflösende Muster vermissen, die ihnen als Vorlage dienen können. Dem wollte sie abhelfen.

"Es sollte einen Ort für digitalisierte, druckbare und frei verfügbare Muster geben, da es sich um ein kulturelles Erbe handelt", sagte sich Masri - und entschloss sich, nicht darauf zu warten, dass jemand anderes eine solche Datenbank einrichtet.

Tausende Stunden am Computer

Knapp 25 Jahre nachdem ihre Großmutter sie mit dem Tatreez, der traditionellen nahöstlichen Nadelarbeit, bekannt gemacht hatte, gründete Masri Tirazain die erste digitale Stickereidatenbank mit traditionellen palästinensischen Kreuzstichmustern. Auch stellte sie Informationen über die Herkunft und die ästhetischen Merkmale der Muster bereit. Typische Motive sind etwa Palmen, gezackte Muster in verschiedenen Farben oder solche, die den Kacheln des Tempelbergs in Jerusalem ähneln.

Allerdings nahm die Erstellung einer solchen Datenbank viel mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich erwartet. Da keine der vorhandenen Optionen bei der Digitalisierungssoftware präzise genug war, um die Stiche automatisch zu entziffern, übertrug Masri die Motive manuell auf digitale Raster.

"Ich habe Tausende von Stunden damit verbracht, die Motive Stich für Stich zu digitalisieren", sagt sie. Dafür ließen sie sich nun aber herunterladen und auch drucken.

Inzwischen liegen auf ihrer seit Oktober 2021 bestehenden, diesen Sommer offiziell freigeschalteten Datenbank rund tausend Muster bereit. Laut Nutzerstatistik greifen mehr als tausend Menschen täglich darauf zu. Und die Community wächst.

Elderly lady sits on a couch wearing a traditional Palestinian dress with tatreez embroidery
Lebendige Erinnerungen: Zain Masri weiß noch gut, wie sie im Alter von sieben Jahren ihr erstes Kreuzstichmuster fertiggestellt hat. "Jahrelang war das meine Lieblings-Freizeitbeschäftigung im Haus meiner Großmutter in Jordanien", sagt die heute 31-Jährige. (Foto: Dank an Zain Masri)

Palästinensische Stickerei als 'immaterielles Kulturerbe'

Während Kreuzstiche auf Kleidern und Stoffen im gesamten Nahen Osten eine lange Tradition haben und die frühesten Funde bis ins alte Ägypten zurückreichen, kommt der palästinensischen Stickerei eine zusätzliche Bedeutung zu. Dies sieht auch die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) so, die die palästinensische Stickereikunst im Jahr 2021 in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit (Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity) aufnahm.

"In der palästinensischen Kultur wurde die Stickerei immer als Erzähltechnik gesehen", sagt Masri. "Anhand der Stickerei und der Farbe des Fadens konnte man genau erkennen, woher eine Frau kommt, ob sie ledig oder verheiratet ist, ob sie Kinder hat, geschieden oder verwitwet ist."

Wenn eine Frau etwa geheiratet hat, wurde ihr wichtigstes und oft einziges Kleid mit einem roten Faden bestickt. Erwartete sie ein Kind, wurde das Kleid vorübergehend mit Stoffflicken an den Seiten verändert und später während der Stillzeit um die Brust herum geöffnet.

"Ließ die Frau sich scheiden oder starb ihr Mann, wurden Motive in dunkleren Farben hinzugefügt. Auf diese Weise erzählt sich die gesamte Lebensgeschichte der Frau", so Masri. "Diese Kleider sind zu Familienschätzen geworden, die ganze Biographien enthalten."

Für die männlichen Palästinenser gibt es hingegen keine entsprechende Tradition. Sie tragen allein ein besticktes Taschentuch zur Hochzeit. Dieses wird in der Regel von der zukünftigen Ehefrau angefertigt.

Andere typische bestickte Gegenstände der Aussteuer waren Kissenbezüge oder Dekorationsartikel für den Haushalt. Zain Masri, die in den Vereinigten Staaten geboren wurde, zeigt auf ihre beiden kreuzgestickten Kissen auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. "Ich liebe Textilkunst. Diese beiden sind einfach wunderschön."

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Zwei Jahre brauchte Zain Masri, um jedes Kreuzstichmuster per Hand zu digitalisieren. (Foto: Dank an Zain Masri)

Digitale Projekte für arabische Frauen

Tirazain ist zwar Zain Masris erstes privates Projekt. Bei den diesjährigen Anthem Awards erhielt sie dafür Bronze in der Kategorie "Bestes Engagement in den Bereichen Bildung, Kunst und Kultur“. Allerdings erregen ihre Projekte zur Förderung der digitalen Kompetenz und der wirtschaftlichen Selbstbestimmung arabischer Frauen nicht zum ersten Mal Aufmerksamkeit.

So hat ihr Programm zur Vermittlung digitaler Kompetenz, "Maharat min Google" ("Googles Fähigkeiten"), fast zwei Millionen Menschen im Nahen Osten erreicht. Ihr YouTube-Balata-Projekt - es stellt hunderte Unternehmerinnen in der arabischen Welt vor - genießt im arabischsprachigen Raum große Anerkennung. Zuletzt wurde Masri, die 2009 nach Dubai gezogen ist, in die Forbes-Liste der 30 einflussreichsten Personen unter 30 Jahren sowie in die entsprechende Liste der Arab America Foundation aufgenommen. Außerdem wurde sie zur UN Women Advocate und zum IMF Youth Fellow ernannt.

Bei ihrem jüngsten Projekt dachte Masri viel an ihre beiden in Jordanien lebenden Großmütter. "Ich weiß, dass sie mit der Datenbank selbst wenig anfangen können. Aber als ich ihnen einige meiner fertigen Stücke zeigte, erkannten sie sofort die Muster und mochten sie auch", sagt Masri. "Unsere Familientradition lebt weiter, online und offline".

Jennifer Holleis

© Deutsche Welle 2023

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.