Nachruf auf den "Schmetterling des Balletts“

Am Morgen des 11. Juni 2023 verstarb Magda Saleh, die erste ägyptische Primaballerina, im Alter von 78 Jahren. Sie hat das klassische Ballett nach Kairo gebracht. Mohammad al-Mansi blickt zurück auf ihr Leben. 
Am Morgen des 11. Juni 2023 verstarb Magda Saleh, die erste ägyptische Primaballerina, im Alter von 78 Jahren. Sie hat das klassische Ballett nach Kairo gebracht. Mohammad al-Mansi blickt zurück auf ihr Leben. 

Am Morgen des 11. Juni 2023 verstarb Magda Saleh, die erste ägyptische Primaballerina, im Alter von 79 Jahren in Kairo. Sie hat das klassische Ballett nach Ägypten gebracht. Mohammad al-Mansi blickt zurück auf ihr Leben. 

Von Mohammad al-Mansi

Im Jahr 1966 präsentierte das Opernhaus Kairo erstmals ein Ballett auf einer ägyptischen Bühne. Die Vorstellung trug den Titel "Der Brunnen von Bachtschissaraj“. In den Hauptrollen tanzten fünf junge Ägypterinnen, die in der Sowjetunion ausgebildet worden waren. Eine von ihnen, Magda Saleh, ragte aus der Gruppe deutlich hervor und wurde zum Inbegriff des ägyptischen Balletts.  

Salehs Beitrag zur internationalen Tanzszene würdigte kürzlich die New Yorker Tanz- und Theatergruppe "From the Horse’s Mouth“. In zwei Dokumentationen über die Geschichte des ägyptischen Tanzes, die im Rahmen dieser Veranstaltung gezeigt wurden, konnte man Saleh bewundern und ihr zuhören: "A Footnote in Ballet History?“ von Hisham Abdel Khalek (2016) und "Egypt Dances“ (1977). 

Zu erleben ist Saleh hier von dem Moment an, als sie auf der Bühne des Kairoer Opernhauses abhob, um zum "Schmetterling des Balletts“ zu werden und  verkündete: "Seht her, ich habe euch eine Geschichte zu erzählen!“ 

Eine Pionierin des Tanzes

Salehs Lebensgeschichte als Tänzerin, Tanzlehrerin und später Direktorin des Opernhauses in Kairo, gefolgt von ihrem anschließenden Umzug in die Vereinigten Staaten spiegelt das Ägypten vergangener Jahrzehnte wider, vom Enthusiasmus für politische, ideologische und kulturelle Experimente bis hin zu Phasen kultureller Erschütterungen.

Magda Saleh, Ägyptens erste Primaballerina (Foto: Magda Saleh)
Leidenschaft für den Tanz: Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer schottischen Mutter begann Magda Saleh schon früh mit dem Ballett. Damals galt in der ägyptischen Gesellschaft schon das Reden über Tanzen als skandalös. Aus ihrer Erinnerung an den Vater: "Er war ein angesehener Akademiker und aus seiner Sicht davon überzeugt, dass meine Beschäftigung mit dem Tanz mich sozial angreifbar machte. Er war mit meiner Berufswahl anfangs gar nicht einverstanden, vor allem wegen der Vorurteile in der ägyptischen Gesellschaft gegenüber Tänzern und Künstlern.“   



Ihr Lebensweg steht im Widerspruch zur Situation vieler ägyptischer Frauen. Denn sie versuchte, sich selbst stets neu zu erfinden und mit ihrer lebenslangen Leidenschaft für das Ballett das zu verwirklichen, wovon sie träumte, seitdem sie ein kleines Mädchen war: eine Tänzerin zu sein.



"Ich wäre nicht der Mensch geworden, der ich heute bin, wenn ich das alles nicht durchgemacht hätte“, sagte sie in einem Interview mit dem Online-Magazin Shelter Island Reporter. "Wenn ich in Ägypten geblieben wäre, wäre ich wie jedes einfache ägyptische Mädchen gewesen. Ich wäre erwachsen geworden und hätte geheiratet wie die meisten Mädchen im Nahen Osten.“ 

In einem anderen Interview schilderte sie folgende Erinnerung: "Ich nahm Ballettunterricht und dachte darüber nach, dass meine Lehrerin im Bolschoi-Ballett tanzte. Während ich sie beobachtete, spürte ich etwas Unbeschreibliches. Von da an wusste ich, was ich mein ganzes Leben lang machen wollte.“  

Aufgewachsen ist Saleh mit ihren drei Geschwistern als Kind eines ägyptischen Vaters und einer schottischen Mutter. Ihr Vater war einer der ersten Absolventen der landwirtschaftlichen Fakultät der Cairo University und bekam ein Stipendium für ein Studium in Glasgow, wo er ihre Mutter kennenlernte. Nach der gemeinsamen Rückkehr nach Ägypten heiratete das Paar 1937.  

Saleh begann schon früh mit dem Ballett. Gegen den Widerstand des Vaters wurde ihre Leidenschaft für diese Kunst immer stärker. Damals galt in der ägyptischen Gesellschaft schon das Reden über Tanz als skandalös. 

Gegen den Widerstand des Vaters

Sie erinnerte sich: "Er war ein angesehener Akademiker und aus seiner Sicht davon überzeugt, dass meine Beschäftigung mit dem Tanz mich sozial angreifbar machte. Er war mit meiner Berufswahl anfangs gar nicht einverstanden, vor allem wegen der Vorurteile in der ägyptischen Gesellschaft gegenüber Tänzern und Künstlern.“ 

Dennoch besuchte sie die Musikschule in Alexandria, die eine Ballettabteilung hatte, geleitet von Lehrern der britischen Royal Academy of Dance, bevor diese Ägypten aufgrund der sich ändernden politischen Lage verließen." 1958 tourte das russische Moissejew-Ballett durch Ägypten und kam auch nach Alexandria.



Saleh erzählte im Interview: "Der Direktor wurde damals eingeladen, sich die jungen einheimischen Ballettkinder anzuschauen. Er rief mich zu sich. (…) Ich erinnere mich daran, wie er sagte, ich sei talentiert und es käme eine Lehrerin der Ballettschule des Bolschoi-Theaters, um etwas Ähnliches in Kairo aufzumachen. Ich sollte mich dort bewerben.“ 

Die fünf ägyptischen Ballettänzerinnen posieren vor dem Bolshoi Ballet in Moskau (Foto: Magda Saleh)
In Hisham Abdel Khaleks Filmbiografie "A Footnote in Ballet History?” erinnert sich Magda Saleh daran, das eine der Lehrerinnen an der Bolschoi-Ballettakademie in Moskau die ägyptischen Mädchen bat, nicht dauernd mit neuen Kleidern vor den russischen Kommilitoninnen zu erscheinen. Denn die meisten von ihnen besaßen nur ein Kleid für das ganze Jahr. Die fünf jungen Frauen sollten den Kern einer professionellen ägyptischen Balletttruppe bilden. Ein ganzes Jahr lang übten sie für ihre Uraufführung 1966 in Kairo. Als es dann soweit war, staunte das ägyptische Publikum nicht schlecht: "Sie konnten nicht glauben, dass wir Ägypterinnen waren!“ 



Mit 14 Jahren wurde sie Schülerin einer russischen Abteilung an einer Akademie, die vom ägyptischen Kulturministerium unterstützt wurde. Hier gab es, ähnlich wie an einer Akademie der Künste, sieben Abteilungen, darunter eine für Ballett.



Jedes Jahr kamen mehr professionelle Künstler aus der Sowjetunion, im im Rahmen eines neunjährigen akademischen Ausbildungsprogramms zu unterrichten. 

Fünf Jahre später wurden Magda und die anderen vier Mädchen Diana Hakak, Nadia Habib, Alia Abdel Razek und Wadoud Fayez für ein Stipendium in Moskau ausgewählt.



Saleh sagt über diese Zeit im Ausland: "Nach zwei Jahren schlossen wir dort die Bolschoi-Ballettakademie ab. (...) Moskau war für uns definitiv eine herausfordernde Erfahrung. Wir waren wie verwöhnte kleine Mädchen, als wir dort ankamen. Bei unserer Rückkehr im Alter von 21 Jahren hatten wir gelernt, selbst auf uns aufzupassen. Wir waren bereit, uns der Welt zu stellen.“ 

Nasser kam zur Premiere

Eigentlich galt Ägypten zu jener Zeit als ein von der Sowjetunion unterstütztes Entwicklungsland. Dennoch erinnert sich Saleh in Hisham Abdel Khaleks Dokumentarfilm "A Footnote in Ballet History?“ daran, dass eine der Lehrerinnen die ägyptischen Mädchen bat, nicht dauernd mit neuen Kleidern vor ihren russischen Mitstudentinnen zu erscheinen. Denn die meisten von ihnen besaßen nur ein Kleid für das ganze Jahr. 

Die fünf jungen Frauen sollten den Kern einer professionellen ägyptischen Balletttruppe bilden. Für ihre Uraufführung in Ägypten im Jahr 1966 übten sie ein ganzes Jahr lang. Bei den Proben oft anwesend war der ehemalige Armeeoffizier und damalige Kulturminister Tharwat Okasha. Er war begeistert von den Tänzerinnen und nannte sie "meine Kinder“. 

Als es dann so weit war, staunte das ägyptische Publikum nicht schlecht: "Sie konnten gar nicht glauben, dass wir Ägypterinnen waren!“ 

Auch Präsident Gamal abdel Nasser sah sich die Ballettaufführung an, woraufhin sie alle mit dem staatlichen Verdienstorden ausgezeichnet wurden. 

"Unser einziges Ziel war, eine gute Vorstellung abzuliefern. Wir hatten mehr als ein Jahr lang trainiert. Auch für alle früheren Ballettaufführungen haben wir trainiert, und ich habe mich auf meine eigene Leistung konzentriert. Doch eine rein ägyptische Aufführung im Kairoer Opernhaus zu präsentieren – das war vom Gefühl her etwas ganz anderes.“ 

Nachdem die Aufführung in Kairo ein Erfolg gewesen war, beschloss das Kulturministerium, sie in Assuan zu zeigen. Das überraschte die Menschen. Wer würde "im Land des Staudamms“ schon eine Ballettaufführung anschauen?

 

#Egypt and the Arab world’s legendary first #ballerina Magda Saleh has passed away. A true trailblazer when it comes to Egyptian culture, ballet and dance. A sweet and humble soul to all those who knew her #egyptianicons #egywomem #rip pic.twitter.com/kUZkj6mXkn

— Zeinobia ️ (@Zeinobia) June 11, 2023

 

Doch auch diese Aufführung versetzte das Publikum in Staunen. Saleh erinnerte sich in dem Dokumentarfilm an einen Moment kurz nach der Aufführung: "Ich wurde von einem bescheiden aussehenden Mann in einer Galabija (traditionelles Gewand; Anm. d. Red.) überrumpelt, der den Backstage-Bereich betrat und mich ansah. Als ich ihn fragte, was er wolle, rief er: 'Junge Dame, das ist eine wirklich schöne Sache!‘ Da wurde mir klar, dass unser Auftritt diesen einfachen Mann berührt hatte.“ 

In dieser Zeit, so führte sie aus, gab es "viele Tabus, Verbote und Bedenken gegenüber dem Tanz und Tänzern allgemein. Doch die Ägypter lieben den Tanz, die Freude und das Leben. Schauen Sie sich die ägyptischen Feste an und Sie werden feststellen, dass der Tanz ein wesentlicher Bestandteil unseres menschlichen Lebens ist.“ 

Als das Opernhaus niederbrannte, weinte sie

Als das Kairoer Opernhaus 1971 niederbrannte, war Saleh in ihrer Heimat. Sie erinnert sich: "Ein Tanzkollege kam auf seinem Motorrad angefahren und berichtete vom Brand im Opernhaus. Ich sprang auf, setzte mich hinter ihn und wir fuhren zum Stadtzentrum, wo das Opernhaus stand. Dort waren schon hunderte, vielleicht tausende Menschen in aller Stille versammelt.“



Und weiter: "In der Nähe gab es eine Hauptfeuerwache, doch sie hatten dort nur Wasserdruck für zwei Schläuche. Es war ein kläglicher Löschversuch. Wir standen alle da und weinten. Es war ein schrecklicher Moment. Es war das Ende einer Ära und ein verheerender Schlag gegen alle Bemühungen um Kultur und Theater in Kairo.“ 

Die Brandkatastrophe veränderte alles. Saleh bekam von ihrer Mutter den Rat, zu akzeptieren, was geschehen war. "Sie sagte mir, wenn ich weiter tanzen wolle, sollte ich einen anderen Weg dafür finden.“ 

Mithilfe familiärer Beziehungen – ihr Vater war damals Vizepräsident der Amerikanischen Universität in Kairo – bewarb sie sich um ein Stipendium für ein Studium der Kunst und traditionellen Tanz an der University of Southern California, wo sie einen Master-Abschluss erwarb, gefolgt von einer Promotion an der New York University. Während dieser Zeit beteiligte sie sich auch an der Produktion eines Dokumentarfilms über traditionelle Tänze im Niltal, den eingangs erwähnten Film "Egypt Dances“. Sie reiste für den Film durch ganz Ägypten und dokumentierte 20 verschiedene Arten des Tanzes. 

 

 

Direktorin des neuen Kairoer Opernhauses  

1983 kehrte sie nach Kairo zurück, um als Professorin an der Balletthochschule zu arbeiten, deren Dekanin sie später wurde. Siebzehn Jahre nach dem Brand, der ihr Leben verändert hatte, wurde sie schließlich zur Direktorin des neuen Opernhauses ernannt. In den Archiven der Bibliothek von Alexandria stößt man auf ein Interview aus dem Jahr 1989, in dem Saleh gegenüber der ägyptischen Zeitschrift Shabab Baladi einräumt: "Ich habe Angst, dass die Ballettkunst in den Mauern dieses teuren Opernhauses eingeschlossen wird.“ 

Sie vertrat die Meinung, Kultur sei kein Luxus, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft. Nicht endenwollende Bürokratie, die Verschwendung von Geldern und politische Streitigkeiten führten schließlich jedoch zur Absetzung Salehs als Direktorin und erstickten nach Ansicht von Abdel Khalek, dem Regisseur ihrer Filmbiografie, die Hoffnungen auf eine "neue Ära“ des Opernhauses. 

In den Medien finden sich Details zu ihrer Entlassung. Sie wird als Unbequeme beschrieben, die keine faire Chance hatte, sich zu bewähren, bevor sie des Opernhauses verwiesen und ihr Büro mit rotem Wachs versiegelt wurde.



Der damalige Kulturminister Farouk Hosni teilte keine Begründung für seine Entscheidung mit. Es kursierten jedoch Gerüchte, Saleh habe sein Missfallen erregt, weil er sich gänzlich übergangen fühlte: Sie hatte eine persönliche Einladung zur Premiere am Opernhaus direkt an den damaligen Präsidenten Hosni Mubarak gerichtet. 

1992 kehrte sie in die USA zurück und widmete sich an der New York University der Lehre. Nachdem sie ihre Tanzkarriere 1993 wegen eines Rückenproblems beenden musste, heiratete sie Jack Josephson, einen Ägyptologen, der am New Yorker Institute of Fine Arts arbeitete. 

Nach ihrer Meinung zur Revolution des 25. Januar und den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz im Frühjahr 2011 gefragt sagte sie ein Jahr danach: "Einige Menschen denken, alles bricht jetzt zusammen und andere sind sehr optimistisch. (…) Mich erfüllt es mit Stolz, was die Menschen erreicht haben. Ich bin sehr stolz, Ägypterin zu sein.“ 

Sie bedauerte es immer noch, ihrem Land nicht besser dienen zu können, und betonte in Bezug auf ihre Bemühungen, ägyptische Künstler in den Vereinigten Staaten zu unterstützen: "Ägypten ist immer bei mir.“  

Mohammad al-Mansi

© raseef22 2023



Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt