Iran: Warum sich der revolutionäre Prozess fortsetzen wird

Im Winter haben die Proteste im Iran nachgelassen, doch nun scheint der revolutionäre Prozess wieder an Dynamik zu gewinnen. Befeuert von den sozioökonomischen und politischen Krisen, die das Regime nicht bewältigen kann, wird dieser Prozess weitergehen.
Im Winter haben die Proteste im Iran nachgelassen, doch nun scheint der revolutionäre Prozess wieder an Dynamik zu gewinnen. Befeuert von den sozioökonomischen und politischen Krisen, die das Regime nicht bewältigen kann, wird dieser Prozess weitergehen.

Im Winter haben die Proteste im Iran nachgelassen, doch nun scheint der revolutionäre Prozess wieder an Dynamik zu gewinnen. Befeuert von den sozioökonomischen und politischen Krisen, die das Regime nicht bewältigen kann, wird dieser Prozess weitergehen. Eine Analyse von Ali Fathollah-Nejad 

Die Islamische Republik Iran leidet unter akuten politischen und sozioökonomischen Krisen, deren Auswirkungen die Stabilität und sogar das Überleben des Regimes gefährden. Infolgedessen häuften sich im vergangenen Jahrzehnt die landesweiten Proteste und wurden zunehmend radikaler, wie um die Jahreswende 2017/18, im November 2019 und seit Mitte September letzten Jahres.

Außerdem vergrößern auch massive ökologische und soziokulturelle Krisen die riesige Kluft zwischen Staat und Gesellschaft. Mit den Aufständen von 2017 und 2018 begann ein langfristiger revolutionärer Prozess im Iran, ähnlich wie ihn die arabische Welt seit 2010 und 2011 erlebt.

An den regimefeindlichen Protesten im letzten Jahr haben sich zum ersten Mal unterschiedliche Gesellschaftsschichten beteiligt – eine qualitativer Sprung im Vergleich zu früheren Aufständen. Somit stellen diese Proteste eine echte Bedrohung für das Regime dar. 

Ein Blick auf wesentliche politische und sozioökonomischen Indikatoren zeigt, wie diese Krisen den Weg für die revolutionären Proteste bereitet haben, die das Land seit dem tragischen Tod von Mahsa „Jina“ Amini im September erfasst haben. Das ist zunächst einmal die politische Krise – um sie geht es vor allem –, und zum anderen die wirtschaftliche Krise, die die sozioökonomsichen Probleme noch verstärkt. Wesentlich ist, dass es sich bei beiden um sgtrukturelle Krisen handelt, die eng mit der politisch-wirtschaftlichen Verfassung und (Fehl-)Leistung des Regimes im Zusammenhang stehen. 

Die politische Krise: Politischer Wandel und Regierungsführung 

Die politische Krise geht darauf zurück, dass es quasi unmöglich ist, die Islamische Republik von innen zu reformieren. Das Regime hält den politischen Autoritarismus aufrecht, wodurch dem politischen Wandel Grenzen gesetzt sind. Diese Unreformierbarkeit ist insbesondere dem Reformflügel des Establishments, aus dem die meisten iranischen Nachkriegspräsidenten stammten, anzulasten. Sie haben offenkundig darin versagt, dringend benötigte Reformen herbeizuführen oder voranzutreiben.

Deshalb richtete sich der Volkszorn bei den Protesten von 2017 und 2018 gegen die Reformer, die sogenannten Gemäßigten. In den Augen der Bevölkerung hatten sie ihre Legitimität verloren, da die Hoffnung auf Reformen innerhalb der Islamischen Republik unwiderruflich begraben schien. Die schlechte Regierungsführung unter Präsident Hassan Rouhani, der vom Reformflügel der Elite unterstützt wurde, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Die tiefe Desillusionierung der Bevölkerung über die gesamte politischen Elite – Hardliner wie Reformer – zeigte sich in der geringen Beteiligung an den Parlamentswahlen vom Februar 2020 und den Präsidentschaftswahlen im Juni 2021. In beiden Fällen setzte sich das konservative Lager durch.

Seit anderthalb Jahren hat der ultrakonservative Ebrahim Raisi die Präsidentschaft inne und es ist angesichts seiner Machtfülle unwahrscheinlich, dass die Hardliner die Ressourcen, die sie kontrollieren, nutzen, um etwas zum Wohle der vielen Iraner tun werden, die darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Die sozioökonomische Abwärtsspirale des Landes führt weiter bergab. 

Die Islamische Republik hat eines der repressivsten und autoritärsten Systeme weltweit: Es gibt Repression gegen Frauen-, Studenten- und Arbeiterbewegung (die zusammen das Rückgrat der iranischen Zivilgesellschaft bilden) , eine düstere Menschenrechtsbilanz, Versammlungs- und Pressefreiheit fehlen und vieles andere mehr. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2022 das Land als „hardline autocracy“, als strikte Autokratie, bezeichnet und im weltweiten Demokratieranking auf Platz 11 von unten verortet – etwas schlechter als der Sudan und kaum besser als Saudi-Arabien oder Syrien.

Am schlechtesten schneidet das Land in Bezug auf die Regierungsführung – die beim BTI unter anderem unter Berücksichtigung von Steuerungskapazität, Ressourceneffizienz, Konsensbildung und internationaler Zusammenarbeit definiert wird – ab. Hier belegt der Iran den sechstschlechtesten Rang und wird in die Kategorie „gescheiterte“ Regierungsführung einordnet – sogar der Südsudan und Libyen schneiden besser ab. Dieses schlechte Abschneiden spiegelt wider, was die iranische Gesellschaft plagt: Inkompetenz und Korruption innerhalb der Elite. 

Die sozioökonomische Krise 

Die verheerende sozioökonomische Krise im Iran ist offenkundig das Ergebnis einer ideologisch geprägten politischen Ökonomie des Regimes, das Oligarchen und Regimetreue begünstigt sowie einer Politik, die die brennende soziale Frage ausblendet. Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wurde der Iran in die schlechteste Kategorie zurückgestuft und rangiert nun auf Platz 13 von unten, fast gleichauf mit dem von den Taliban regierten Nachbarland Afghanistan und schlechter als der andere unmittelbare Nachbar Irak.



In den letzten zehn Jahren hat sich die Armut im Iran erheblich ausgeweitet und große Teile der Mittelschicht erfasst, ein Prozess, der durch Stagflation begünstigt wurde, das heißt einer stagnierenden Wirtschaft mit gleichzeitig hohen Inflationsraten, die schon über 50 Prozent lagen

Der Iran wird im BTI 2022 nicht nur durchgängig auf die untersten Ränge eingestuft, sondern schneidet im internationalen Vergleich besonders schlecht ab. Wut und Frustration, die aus diesen strukturellen wirtschaftlichen und politischen Krisen resultieren, führten in den Jahren 2021 und 2022 schon zu 4.000 Protestaktionen (dokumentiert vom Armed Conflict Location and Event Data Project), bevor die „revolutionäre Episode“ (so Asef Bayat, ein führender Wissenschaftler für soziale Bewegungen im Nahen Osten) im vergangenen September begann. 




 

Der revolutionäre Prozess wird weitergehen

In der gegenwärtigen Protestwelle stehen vier Gruppen im Vordergrund: Frauen, Jugendliche, Studenten und marginalisierte Ethnien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle sozioökonomisch und in hohem Maße auch politisch und soziokulturell unverhältnismäßig stark leiden. 

Derzeit befindet sich der revolutionäre Prozess im Iran in einer Pattsituation. Weder das Regime noch die Demonstranten sind in der Lage, den jeweils anderen ein für alle Mal zu besiegen. In diesem Winter haben die Straßenproteste – mit Ausnahme der Demonstrationen nach den Freitagsgebeten in der südöstlichen Provinz Sistan und Belutschistan – deutlich abgenommen. Gründe dafür sind wahrscheinlich die Repressionen und das saisonal kalte Wetter. Dennoch finden nach wie vor Streiks statt.  

Vermutlich werden die Iraner im kommenden Frühjahr wieder häufiger auf die Straße gehen und protestieren, nicht zuletzt angesichts des beispiellosen Wertverlusts der Landeswährung und einer Inflationsrate von über 50 Prozent. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass Proteste, die sozioökonomische Ursachen haben, oft schnell in politische und regierungsfeindliche Aktionen kippen. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Prozess dürfte sich fortsetzen, denn die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft scheint unüberwindbar angesichts eines unreformierbaren Regimes, das nicht in der Lage – oder nicht willens – ist, auf die wichtigsten Bedürfnisse der Gesellschaft einzugehen. 

Ali Fathollah-Nejad

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt. 

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