Flucht ohne Ende

Erst zum dritten Mal fand 2020 das Human Rights Film Festival Berlin statt, dieses Jahr unter der Schirmherrschaft von Nadia Murad. Dabei hat sich das von der NGO Aktion gegen den Hunger initiierte Festival in kürzester Zeit zu einem spannenden Event im deutschen Filmkalender entwickelt. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Dieses Jahr musste das Menschenrechts-Filmfestival in Berlin, wie sooft in jüngster Vergangenheit, in einem hybriden Format stattfinden, also mit physischen Filmvorstellungen und Diskussionen, aber auch der Möglichkeit, die Filme und Veranstaltungen online anzusehen (noch bis 20.10.). Dabei stellte Flucht und Migration einen von drei thematischen Scherpunkten dar.

Tiny Souls der palästinensisch-jordanischen Regisseurin Dina Naser porträtiert eine Familie im größten jordanischen Flüchtlingslager Zaatari. Dort lernt sie 2012 die elfjährige Marwa, ihre Schwester Ayah (9) und ihren Bruder Mahmoud (5) kennen. Sie ist beeindruckt von den selbstbewussten Kindern und ihrer  lebensfrohen Ausstrahlung, die so deutlich mit der Trostlosigkeit im Lager und ihrer traumatischen Fluchtgeschichte kontrastiert. Die Regisseurin fühlt sich erinnert an Erzählungen ihres Vaters, der als Kind die Vertreibung aus Palästina erlebte.

Tristesse des Zaatari-Flüchtlingscamps

Als die Filmaufnahmen 2012 beginnen, sind die Kinder gerade einige Monate im Camp, in ihrem Dorf in Syrien mussten sie die Zerstörung ihres Hauses und weitere Gewalttaten miterleben, Auch wenn in Zaatari alles vom UNHCR generalstabsmäßig organisiert wird, sind die Bedingungen schwierig und es fehlt an vielem. Die Stimmungen der wechselnden Naturgewalten, von Hitze, Sandstürmen und Starkregen hält der Film in eindrücklichen Einstellungen fest, während die endlosen Reihen der Zelte ständig anwachsen.

Vier Jahre lang begleitete Dina Naser die Familie mit der Kamera, von 2012 bis 2016. Viele Einwohner Zaataris sind in dieser Zeit frustriert und wollen nur noch weg. Selbst eine Rückkehr ins zerstörte Syrien ziehen einige Verzweifelte in Erwägung, obwohl es dort keinerlei Sicherheit gibt. Und ein Umzug in jordanische Städte, nach Amman, ist riskant und vor allem teuer. Auch für Marwa und ihre Familie geht der Versuch schief und sie ziehen trotz aller Widrigkeiten zurück ins Lager.

Immer wieder muss die Regisseurin kämpfen, um von der jordanischen Regierung Zugang zum Lager zu bekommen. In diesen Pausen lässt die Regisseurin eine alte Kamera im Camp, mit der die Kinder sich selbst filmen. Dabei entstehen Aufnahmen, die gerade in ihrer unbeschwerten Beiläufigkeit berühren. Solche Momente ohne Druck und Verantwortung sind die Ausnahme.

Der besten Jahre beraubt

Aus den Kindern werden Teenager, sie werden in Zaatari ihrer besten Jahre beraubt. Die Zukunft bleibt völlig  ungewiss. Als die Familie 2016 tatsächlich nach Syrien in ihr Dorf in der Nähe von Deraa zurückkehrt, verliert Regisseurin Dina Naser den Kontakt – der Film endet mit Ungewissheit, so wie das Leben der Geflüchteten. Erst im September 2019, so berichtet die Regisseurin im Interview mit dem Festival, erfährt sie dass die Familie noch lebt, als Marwa sie plötzlich zu ihrer Hochzeit einlädt.

Ähnlich ungewiss, nur noch härter ist die Lage im libanesischen Bekaatal. Abbas Fahdel porträtiert in seinem Film Bitter Bread das „Camp 003“. Im Libanon handelt es sich nicht um organisierte Flüchtlingslager. Hier stehen wilde Zelte auf den Grundstücken reicher Landbesitzer, die bis zu 500 Dollar für einen Zeltplatz fordern. Die Dienstleistungen sind beschränkt, die Behördenauflagen strikt.

Das tiefe Trauma des Krieges

Bis zu ein Dutzend Menschen leben in den kleinen Zelten, seit vor allem aus Nordsyrien Hundertausende vor Krieg und Zerstörung geflohen sind. Einige wollen zurückgehen, andere haben zu große Angst, aber alle eint das tiefe Trauma der von Krieg und Gewalt  zerstörten Städte, Dörfer und Häuser.

Während Dokumentationen der letzten Jahre oft die dramatische und lebensgefährliche Flucht nach Europa in den Blick genommen haben, bilden diese Filme die Perspektivlosigkeit jener ab, die es nicht so weit geschafft haben. Flucht wird zum alles definierenden Zustand, endloses Warten und verlorene Zeit prägen die Familien und das Aufwachsen der Kinder.

Dieses Gefühl hat Karim Aïnouz auf der Berlinale 2019 in seinem Film Zentralflughafen THF eindrucksvoll eingefangen. Aber während die Geflüchteten in Tempelhof darauf warten, Sprach- und Integrationskurse zu beginnen und irgendwann eine neue Chance zu bekommen, sind die Aussichten hier mehr als trübe. Mitten in der wunderschönen Landschaft der Bekaaebene ist das Leben für die Geflüchteten bei extremen Temperaturen und durchnässten Zelten brutal. Wer für ein paar Dollar auf dem Feld schuften kann muss sich glücklich schätzen, das Geld reicht kaum zum Überleben. Auch hier: Ein Leben im Wartestand, die Zukunft ungewiss.

Die ganze Grausamkeit der Flucht

Der Film Refugee zeigt nochmal im Rückblick die ganze Grausamkeit der Flucht über die „Balkanroute“. Für die Familie Alali tritt das worst case scenario ein, als die Mutter aufgrund des Gesundheitszustandes des Vaters allein die Flucht nach Europa antritt. Doch als sie in Deutschland ankommt, kann sie ihren Mann Nazem und ihre beiden Söhne nicht wie geplant nachholen, da die EU die Grenzen dicht gemacht hat. Die Familie aus Qamishli ist durch die Gewalt in Syrien, die Grauen der Flucht und die Verzweiflung der anhaltenden Trennung schwer traumatisiert.

Auch hier zermürbt das Warten und die Ungewissheit den Vater und seine beiden Kinder; das Gefühl, den Kindern keinen sicheren Ort bieten zu können ist für Nazem die Hölle auf Erden. Eineinhalb Jahre dauert es, bis sie sich in Griechenland wiedersehen – und dann eine Familienzusammenführung von der Deutschen Botschaft zunächst abgelehnt wird.

Erst im Abspann erfährt der Zuschauer vom Ende der Geschichte, die diesmal glücklich ausgeht, als die Familienzusammenführung schließlich gelingt. Refugee ist ein Film der mit viel mehr Stilmitteln, mit Musik, mit Aufnahmen der verschiedenen Orte der Flucht arbeitet. Die dramatischen Mittel sind überflüssig, so herzzerreißend ist die Geschichte Familie Alali.

Der einzelne Mensch im Fokus

All diese Dokumentarfilme porträtieren einzelne Menschen, Familien, und vor allem die Kinder, sie sonst Teil der anonymen Massen dieser so genannten „Flüchtlingskrise“ sind. Sie stehen stellvertretend für Millionen individueller Schicksale. Die Schuldigen an ihrer Situation, in Syrien, in Europa, werden nur angedeutet.

Es mag so scheinen, als sei zu diesem Thema alles gesagt. Und doch sind die Filme fünf Jahre nach Beginn der Krise eine eindringliche Anklage der beschämenden Abschottung der EU und ihrer Unfähigkeit, wenigstens einem Teil der Millionen Geflüchteten aus dem Libanon, Jordanien, der Türkei, und nicht zuletzt aus Griechenland aufzunehmen, wo sie weitgehend unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.

Die Filme bestehen aufgrund der Stärke der porträtierten Personen und dem Vertrauen, das die Filmemacher zu ihnen aufbauen konnten. Sie zeigen wie wichtig menschliche Nähe und feste moralische Standpunkte sind: als Basis für gute Dokumentarfilme und eine bessere Zukunft.

René Wildangel

© Qantara.de 2020