Verein in Frankreich macht sich gegen Antisemitismus stark

Thousands of people stand in a public square. Someone holds up a French flag and in the background, people hold a banner saying: "The Republic united against anti-Semitism"
"Die Republik vereint gegen Antisemitismus": Am 12. November 2023 versammelten sich 182.000 Menschen in ganz Frankreich zu Demonstrationen gegen Antisemitismus (Foto: Claudia Greco/REUTERS)

In Frankreich ist seit Beginn des aktuellen Nahost-Kriegs die Zahl der antisemitischen Vorfälle stark gestiegen. Initiativen machen sich dagegen stark - wie ein jüdisch-muslimischer Verein bei Paris.

Von Lisa Louis

Die Szene wirkt wie ein Hoffnungsschimmer in angespannten Zeiten: An einem Dienstagmorgen stehen ein halbes Dutzend Jugendliche neben einem Van in Ris-Orangis, einem südlichen Vorort von Paris. Auf dem Wagen sind aufgedruckte Sätze wie "Uns vereint mehr, als es scheint" zu lesen.

"Wie würdet Ihr Diskriminierung definieren?" fragt Thibault, ein Franzose, der zum Islam konvertiert ist, die Jugendlichen. "Das ist, wenn man jemanden aufgrund bestimmter Merkmale schlecht behandelt", antwortet einer der Teilnehmer, die anonym bleiben möchten, da sie minderjährig sind. "Was ist Altersdiskriminierung?" fährt Thibault fort. "Dabei zieht man jemanden wegen seines Alters nicht für etwas in Betracht", antwortet ein anderer Jugendlicher. Das Seminar wird von einem Verein organisiert, der sich gegen Antisemitismus einsetzt. Seit Beginn des aktuellen Nahost-Kriegs zwischen Israel und der militant-islamistischen Hamas im Gazastreifen ist dies umso nötiger. Die Hamas wird vom Westen und einigen arabischen Ländern als Terrororganisation eingestuft.

Neben den Jugendlichen steht der 80-jährige Rabbiner Michel Serfaty. Er hat vor 20 Jahren die "Gruppe für jüdisch-muslimische Freundschaft" (AJMF) gegründet, deren acht Angestellte alle Muslime sind. "Wir bekämpfen Antisemitismus und Islamophobie", sagt er zu DW. "Indem wir über verschiedene Weisen der Diskriminierung sprechen, sensibilisieren wir junge Leute. So geraten sie nicht in die Falle des Antisemitismus".

Rabbi Michel Serfaty and Imam Haj Mouloid Elouasia from the Group for Jewish Muslim Friendship (AJMF)
Enge Freundschaft: Rabbiner Michel Serfaty vom Verein AJMF im Gespräch mit Imam Haj Mouloid Elouasia. (Foto: Lisa Louis/DW)

Ein genereller Trend zu mehr Antisemitismus

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem daraufhin erklärten Krieg Israels gegen die Hamas haben die französischen Behörden fast 1250 antisemitische Übergriffe registriert. Michel Wieviorka, Soziologe an der Pariser Universität EHESS, nennt diese Zahl "erschreckend". "Innerhalb weniger Wochen gab es mehr solcher Übergriffe als in irgendeinem Jahr insgesamt seit deren systematischer Aufzeichnung 2000", sagt er zu DW. Für ihn ist dies eine Reaktion auf den Nahost-Konflikt, der sich in das Land übertrage. In Frankreich leben eine der größten jüdischen und muslimischen Gemeinden Europas. 

Aber es gebe auch einen generellen Trend zur Judenfeindlichkeit, welchen man an den seit Jahren oft mehr als 400 antisemitischen jährlichen Übergriffen sehe. "Außerhalb Deutschlands haben viele erst in den 1970er oder -80er Jahren den vollen Horror des Holocausts und die Ermordung der sechs Millionen Juden entdeckt - hier in Frankreich vor allem durch Claude Lanzmanns Dokumentarfilm 'Shoah'. Dadurch stand man den Juden sehr wohlwollend gegenüber", meint er.

"Es gab auch lange Zeit eine sehr lebhafte kulturelle jüdische Szene, und Israel hatte ein gutes Image - dort war die Utopie möglich in den sozialistischen Kibbuz-Kommunen", erklärt Wieviorka. Doch diese Effekte ließen immer mehr nach. "Man spricht noch über die Shoah in Schulen und Museen, aber die Menschen scheinen sich an den Schrecken zu gewöhnen. Außerdem ist die jüdische Kulturszene weniger dynamisch, und das Image Israels hat sich über die verschiedenen Kriege hinweg verschlechtert", meint er.

An older man talks to two younger men in a parking lot
Im Gespräch mit den Jugendlichen: Der Verein "Gruppe für jüdisch-muslimische Freundschaft" (AJMF) bei Paris. (Foto: Lisa Louis/DW)

"Rassismus und Antisemitismus sind gegensätzliche Phänomene"

Um dem entgegenzuwirken, fährt Serfatys Verein AJMF auch regelmäßig durch Frankreichs ärmste Vorstädte. Für den Rabbiner, der selbst in Marokko aufwuchs, liegt dort der Kern des Problems. "Viele Muslime, vor allem junge Leute in armen Gegenden, wachsen mit der Idee auf, dass Juden reich sind und die Welt beherrschen", meint er. "Dort [in den armen Vorstädten, Anmerk. d. Red.] gibt es die landesweit höchsten Kriminalitätsraten, Anteile an Schulabbrechern und Arbeitslosenraten. Wir haben festgestellt, dass 95 Prozent der antisemitischen Übergriffe da ihren Ursprung haben."

Danny Trom, Soziologe an Frankreichs nationalem Forschungsinstitut CNRS, erklärt diesen Antisemitismus so, dass die Bewohner sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten. "Manchen - auch denen, die ihre Wurzeln in ehemaligen Kolonien haben, und sich stigmatisiert fühlen - erscheint es logisch, sich gegen Juden zu wenden, weil sie sie als dominierend sehen", sagt der Forscher zu DW. "Insofern sind Rassismus und Antisemitismus gegensätzliche Phänomene: Bei Ersterem diskriminiert man einen als minderwertig angesehenen Teil der Bevölkerung. Letzterer richtig sich gegen eine als Elite wahrgenommene Gruppe."

Die Regierung versichert, sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um Juden zu schützen. "10.000 Polizisten und Soldaten bewachen 900 Synagogen und jüdische Schulen, und wir haben bereits 486 Leute wegen antisemitischer Taten festgenommen", sagte Innenminister Gérald Darmanin in französischen Medien.

Antisemitismus "ist auf dem gesamten politischen Spektrum zu finden"

Doch Rafaël Amselem, Analyst für Öffentliche Politik bei der Pariser liberalen Denkschmiede GenerationLibre, sagt, die Regierung sei nicht das Problem. "Es sind eher gewisse Parteien wie die Linksaußen-Bewegung LFI (Ungebeugtes Frankreich)”, unterstreicht er im Gespräch mit der DW. "Deren Anführer Jean-Luc Mélenchon hat die Demonstrationen gegen Antisemitismus am Sonntag als Treffen derjenigen bezeichnet, die uneingeschränkt Israels Bombardierung Gazas unterstützten - das ist völlig inakzeptabel. Man darf sich also nicht gegen Antisemitismus stark machen, ohne sich gleichzeitig von Israels Regierung zu distanzieren?"

Bei Märschen gegen Antisemitismus waren am Wochenende in ganz Frankreich rund 182.000 Menschen zusammengekommen. Doch LFI hatte die Demonstrationen offiziell boykottiert -  auch wenn ein paar Rebellen der Partei bei Märschen außerhalb von Paris waren, weil in Paris die Rechtsaußen-Partei RN, mit der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, mitgelaufen war.

"Das Paradoxe ist, dass LFI den RN weniger radikal erscheinen lässt", unterstreicht Anselem. So stelle sich die Rechtsaußen-Partei als Verfechter der Juden dar, um deren Stimmen anzuziehen. "Dabei trügt der Schein. Der RN hat noch immer Mitglieder mit antisemitischen Ansichten und arbeitet mit offen antisemitischen Organisationen zusammen. Eine Gruppe wie die Juden, mit eigenen Ritualen und eigener Lebensweise, würde der RN nicht tolerieren", meint der Forscher, der selbst Jude ist.

Tal Bruttmann, Historiker, Antisemitismus-Experte und Mitglied der privaten Stiftung für die Erinnerung an den Holocaust, sagt, die jüngsten politischen Entwicklungen zeigten, dass Antisemitismus immer noch auf dem gesamten politischen Spektrum zu finden sei. "Seit den schrecklichen Vorfällen im Dritten Reich denken viele, Antisemitismus beschränke sich auf die extreme Rechte. Sie vergessen, dass auch die ehemalige Sowjetunion antisemitische Politik umsetzte", meint er zu DW.

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Kann "Kleinjerusalem" als gutes Beispiel vorausgehen?

Marc Hecker, Direktor für Forschung und Kommunikation der Pariser Denkschmiede Ifri, meint daher, es müsse mehr für ein Umdenken getan werden. "Wir brauchen mehr Initiativen an Schulen und wie die in Ris-Orangis, um antisemitische Vorurteile zu dekonstruieren", sagt er zu DW.

Dort hat der Workshop tatsächlich dazu beigetragen, Vorurteile abzubauen. "Früher dachte ich, Juden wollten unter sich bleiben. Jetzt weiß ich, das stimmt nicht. Man sollte nicht alle über einen Kamm scheren", sagt einer der Teilnehmer. Rabbiner Serfaty hofft, dass sich andere ein Beispiel an Ris-Orangis nehmen. Er nennt dieses Viertel "Kleinjerusalem": Die Synagoge, Kirche und Moschee stehen praktisch nebeneinander. Der Rabbiner, der Imam und christliche Würdenträger organisieren hier regelmäßig gemeinsame Aktivitäten.

Sie haben auch jüngst zusammen der Opfer des Terrorangriffs der Hamas gedacht. Denn es verbindet sie eine tiefe Freundschaft, wie der Imam der Gegend DW erzählt. "Nur durch die Hilfe von Herrn Serfaty haben wir vor 20 Jahren hier die Moschee eröffnen können," sagt Haj Mouloid Elouasia. "Er rief den Bürgermeister an und sagte, hier sind Räume frei, können Sie die der muslimischen Gemeinde geben? Der Bürgermeister fragte -  haben Sie denn gar keine Angst vor den Muslimen? Herr Serfaty meinte, im Gegenteil. Ich möchte sie in meiner Nähe haben, damit wir Nachbarn und Brüder werden können."

Lisa Louis

© Deutsche Welle 2023

 

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