"Raus aus der Marginalisierung, rein in den Mainstream"

Die aus Indien stammende Journalistin Navina Sundaram (1945–2022) war die erste nicht-weiße Berichterstatterin im deutschen Fernsehen. Das Onlinearchiv "Die Fünfte Wand“ dokumentiert ihre Arbeiten. Die englische Ausgabe wurde Anfang April im indischen Delhi präsentiert. Sonja Hegasy war bei der Premiere.
Die aus Indien stammende Journalistin Navina Sundaram (1945–2022) war die erste nicht-weiße Berichterstatterin im deutschen Fernsehen. Das Onlinearchiv "Die Fünfte Wand“ dokumentiert ihre Arbeiten. Die englische Ausgabe wurde Anfang April im indischen Delhi präsentiert. Sonja Hegasy war bei der Premiere.

Die deutsch-indische Journalistin Navina Sundaram (1945–2022) wird als eine der wichtigsten Dokumentarfilmerinnen wiederentdeckt. Das Onlinearchiv "Die Fünfte Wand“ dokumentiert ihre Arbeiten. Die englische Ausgabe wurde Anfang April im indischen Delhi präsentiert. Sonja Hegasy war bei der Premiere.

Von Sonja Hegasy

Das Online-Archiv "Die Fünfte Wand - Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin“ versammelt knapp 70 Filme seit 1963, Reportagen, Fotos, Briefe an ihre Eltern, sowie Texte von Navina Sundaram aus über 40 Jahren Tätigkeit für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die meisten Filme haben ein 30- bis 45 minütiges Format.



Hinzu kommt eine Auswahl von Texten über die Journalistin, die zwischen 1964 und 1993 erschienen sind, sowie neu eingespielte Kommentare bekannter Medienschaffender wie der Filmemacher Dorothee Wenner oder Philip Scheffner, der Ethnologin Urmila Goel und der Sozialanthropologin Britta Ohm. Navina Sundarams private Sammlung und die Filme, deren Nutzungsrechte dem NDR in zähen Verhandlungen abgerungen wurden, werden hier zu einer verblüffenden Kulturgeschichte des "anderen Deutschland“ in der BRD.



Verblüffend, weil so viele Themen gerade wieder aktuell sind: Yoga und die nervöse Ablenkungskultur, Arbeitskräftemangel und Einwanderung, Souveränität und die Interessen der ehemaligen Kolonialmächte, Journalismus und Sendezeit, tödlicher Hindunationalismus, Migrationsvordergrund oder ein Interview mit Salman Rushdie von 1984. Der Untertitel Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin stammt von Sundaram selbst aus einer Studie über Indien im Deutschen Fernsehen von 1957 bis 2005.

Die Journalistin Navina Sundaram bei einer Reportage für den NDR; Foto: Sundaram/NDR
Navina Sundaram als junge Reporterin beim NDR: Von 1964 bis 2003 war Sundaram Redakteurin beim NDR und Auslandskorrespondentin für die ARD. Geboren 1945 in einer gutbürgerlichen Familie aus Shimla, der ehemaligen Sommerhauptstadt der Briten am Fuße des Himalaya Gebirges, ging Sundaram mit 19 Jahren für ein Volontariat zum NDR nach Hamburg und moderierte ab 1970 unter anderem den Weltspiegel, extra 3, Panorama sowie verschiedene Brennpunkte. Wer in den 1980ern den Weltspiegel schaute, der kannte die junge Frau mit den scharfsinnigen und unaufgeregten Nachfragen und dem wunderbaren Gehör für ungewollte Stilblüten ihrer Gesprächspartner. 1992/93 wurde Navina Sundaram Leiterin des ARD-Fernsehstudios Südasien in Neu-Delhi. 

"Zu nah dran am Ausland"

Von 1964 bis 2003 war Navina Sundaram Redakteurin beim NDR und Auslandskorrespondentin für die ARD. Geboren 1945 in einer gutbürgerlichen Familie aus Shimla, der ehemaligen Sommerhauptstadt der Briten am Fuße des Himalaya Gebirges, lernte sie Anfang der 1960er Jahre den rastlosen Asien-Korrespondenten der ARD, Hans Walter Berg, kennen. Peter Scholl-Latour nannte Berg einmal den "Marco Polo unserer Tage“. Ab 1963 moderierte Navina Sundaram die Sendung Asiatische Miniaturen für den NDR. Für ihre ersten Beiträge lernte sie Deutsch lautmalerisch auswendig. 

Mit 19 Jahren ging Sundaram für ein Volontariat zum NDR nach Hamburg und moderierte ab 1970 unter anderem den Weltspiegel, extra 3, Panorama sowie verschiedene Brennpunkte. Wer in den 1980ern den Weltspiegel schaute, der kannte die junge Frau mit den scharfsinnigen und unaufgeregten Nachfragen und dem wunderbaren Gehör für ungewollte Stilblüten ihrer Gesprächspartner.



Über das Ausland mit derselben Differenziertheit zu berichten wie über das Inland – davon zeugt ihre Arbeit; auch wenn einige Medienkritiker fanden "fürs Ausland zu nah dran – fürs Inland ja eigentlich nicht hier geboren“. 1992/93 wurde Navina Sundaram Leiterin des ARD-Fernsehstudios Südasien in Neu-Delhi. 



Sundarams Beiträge drehen sich um die fortwährende Dekolonialisierung: Südafrika, Westsahara, Guinea-Bissau, Indien. Was aber haben "Uganda-Asiaten“ mit uns Deutschen zu tun? Navina Sundaram gelingt es schon damals, die welthistorische Bedeutung der überseeischen Ereignisse aufzuzeigen. Umweltpolitik, Exotismus und Alltagsrassismus gehören ebenso zu ihren Themen.

Lebenswege von Geflüchteten

Dabei zeigt sie das allzu menschliche Gesicht aller Seiten. Man darf deutlich in die Kamera sagen, warum man keine Ausländer als Nachbarn haben möchte. Jede und jeder steht und spricht für sich selbst - niemand verkommt bei ihr zur Fratze. Auch Filme jüngeren Datums, wie über die berühmte indische Künstlerin Amrita Sher-Gil, den Sundaram 2007 im Auftrag von Chris Dercon für die Tate Modern macht, gehören zu den nun geborgenen Schätzen. 

 



 

Im Internationalen Frühschoppen bei Werner Höfer analysiert Navina Sundaram mit ihren Kolleginnen Carola Stern und Roshan Dhunjibhoy das Versagen der Politiker in Südasien mit ihrem vorgeblichen Sozialismus: "Solange wir auf der Trommel des Sozialismus spielen, können wir nie abgewählt werden, sagte ein – abgewählter - Abgeordneter der indischen Kongresspartei. Er hat sich geirrt“, so Sundaram. "Und das kam auch daher, weil Indira Gandhi, anstatt die Armut zu bekämpfen, die Armen bekämpft hat.“



Ihre Reportage über die sogenannten Uganda-Asiaten, die 1972 nach über 200 Jahren von Idi Amin über Nacht aus dem Land geworfen wurden, besticht dadurch, dass sie die Lebenswege der Geflüchteten über ein Jahr lang immer wieder ab dem Aufnahmelager in England begleitet. Die Bundesrepublik bietet damals an, tausend Menschen aufzunehmen.



Nur dreißig landen schließlich in Deutschland. Navina Sundaram begleitet die Familien da Couhna und Singh in ihrem neuen Alltag unter Freunden und am Arbeitsplatz in Unna und Leverkusen. Mit Peter Rösch, seinem Arbeitskollegen in der Autowerkstatt von Bayer, fährt Darshan Singh mit Familie vergnügt in einem knallroten Amphibienfahrzeug über den Rhein bei Leverkusen durch das Bild.



Bei Helmut Kohl beschwerte sich Singh über die Zweizimmerwohnung, die ihm für sieben Personen zugewiesen worden war. Kohl kam vorbei und Singh bekam ein Zimmer mehr. Sundaram zeigt Migrationswissen avant la lettre

Ein weiteres Thema, das sich lohnt, heute wieder anzuschauen, sind Sundarams Reportagen über die abziehenden Kolonialmächte und ihre doch fortdauernde Verstrickung. Henry Kissinger und Lê Đức Thọ erhielten 1973 gemeinsam den Friedensnobelpreis für ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Nordvietnam, das zum Zeitpunkt der Verleihung noch nicht einmal in Kraft getreten war. Beide erschienen lieber nicht persönlich zu der Zeremonie. 

 



 

"Ich hatte es satt, wie ein Ausstellungsstück angeschaut zu werden"

Zwei Monate trug Navina Sundaram 1964 noch Sari in Hamburg. Dann "hatte ich es satt, wie ein Ausstellungsstück angeschaut zu werden.“ Während der Sari zunächst Authentizität bedeuten sollte, wollte sie sich durch die Kleidung nicht noch weiter exponieren. "Ich wollte ja dazugehören; ich hatte den Spruch satt: 'Nun wollen wir es aus 'anderen Augen’ betrachtet sehen.‘ Ich wollte aus dieser geistigen Ghettoisierung heraus. Raus aus der Marginalisierung, rein in den Mainstream. Das, was ich als normal empfand, wurde zum Exotischen erklärt und umgekehrt“, schrieb Sundaram 2008 in einem Sammelband

Sundarams Filme und Interventionen passen auch zu den aktuellen Diskussionen um den akuten Fachkräftemangel aufgrund der De-facto-Vollbeschäftigung in Deutschland. Im Dezember 2022 schlossen Deutschland und Indien das erste von mehreren geplanten Migrations- und Mobilitätsabkommen ab, um dem dramatischen Mangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu begegnen. Neben Krankenschwestern und Pflegekräften kommen heute auch Bäcker und Steinmetze aus Indien nach Deutschland. 

Die Produktionsfirma pong kuratiert das Archiv im Rahmen der Initiative Archive außer sich des Berliner Arsenal – Instituts für Film und Videokunst. Alle Filme sind erstaunlicherweise bisher in keiner Mediathek zu finden. Man fragt sich, warum die Öffentlich-Rechtlichen nicht selbst ein Archiv mit Filmen der bekanntesten deutschen Journalistinnen und Journalisten aufbauen? Sundarams Bruder Vivan, der zwei Tage vor der Premiere in Delhi verstarb, ist es zu verdanken, dass nach zweijähriger Arbeit nun fast alle Filme mit englischen Untertiteln zur Verfügung stehen. Das Goethe-Institut übernahm die Finanzierung für die Untertitelung der Filme durch Rubaica Jaliwala. 

Navina Sundaram hat viel zur subkutanen Aufklärung in der BRD beigetragen – viel, gemessen daran, was man in einem Menschenleben schaffen kann. Wie viel in ihrem Leben doch zusammen gekommen war, erstaunte sie selbst, wie sie in ihrem letzten Interview drei Monate vor ihrem Tod im April 2022 anlässlich der "Fünften Wand" erklärte. Für dieses Interview mit dem Deutschlandfunk wünschte sie sich ihren Lieblingssong "Imagine" in der Interpretation des Jazzpianisten Vijay Iyer. Bleiben oder gehen, anpassen oder rausstechen?, diese Frage verfolgte die indische Hanseatin Zeit ihres Lebens. "Schöner ist es anderswo, denn hier bin ich sowieso“ – treffender als Wilhelm Busch hätte ich es auch nicht sagen können, sagt Navina Sundaram. 

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2023

Im Rahmen der dokumentarfilmwoche hamburg wird das Onlinearchiv "Die Fünfte Wand" vom 25. bis 30. April im Festivalzentrum in der fux eG präsentiert und der Film "Darshan Singh will in Leverkusen bleiben" (1973, 43 min, dt. OmeU) am 28.4. um 16:30 im Kino Metropolis gezeigt. 

Sonja Hegasy ist Vize-Direktorin des Berliner Leibniz-Zentrums Moderner Orient und derzeit Fellow am International Centre of Advanced Studies ‘Metamorphoses of the Political’ in Delhi.