"Nie wieder" ist jetzt

Auch in Hannover beteiligten sich rund 35.000 Menschen an den Protesten.
In ganz Deutschland protestierten Hunderttausende gegen die AfD. Auch in Hannover beteiligten sich rund 35.000 Menschen an den Protesten. (Foto: Moritz Frankenberg/dpa/picture alliance)

Seit die Absicht der AfD bekannt wurde, Menschen mit Migrationsgeschichte deportieren zu wollen, protestieren Hunderttausende im ganzen Land.

Kommentar von Sheila Mysorekar

Die schweigende Mehrheit ist aufgewacht. Die Veröffentlichung der Deportationspläne der AfD durch Correctiv treibt empörte Menschen auf die Straße. Tag für Tag demonstrieren Abertausende für ein demokratisches und vielfältiges Deutschland, gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Das ist ein deutliches Zeichen.  

Eine Sache ist neu: Es sind nun auch Menschen aus der breiten, bürgerlichen Mitte, die zuhauf gegen die Rechtsextremen protestieren. Menschen, die den Aufstieg der AfD lange ohne große Aufregung oder Widerstand wahrgenommen hatten.

Die Rechten hatten ihre wahren Absichten bisher recht erfolgreich verschleiert, auch wenn migrantische Organisationen schon seit Jahren vor der Gefahr aus der rechten Ecke warnen. Bislang hatten sich jedoch sowohl Politik als auch viele Wählerinnen und Wähler vorgemacht, dass die AfD vielleicht eine umstrittene, aber dennoch demokratische Partei sei.  

Die Undercover-Recherche der unabhängigen Investigativjournalisten von Correctiv hat ihre Ziele nun bloßgestellt. Spätestens seit dem konspirativen Treffen am 25. November 2023 in Potsdam, an dem bekannte Nazis, Vertreter der Identitären Bewegung, Mitglieder der sogenannten WerteUnion und AfD-Spitzenpersonal teilnahmen, sollte allen klar sein: Die AfD plant Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte, auch von deutschen Staatsbürgern. "Ethnische Säuberungen" nach rassistischen Kriterien haben wir bereits unter dem Nazi-Regime erlebt – mit den bekannten Folgen. Dies sind keine Fantasien, sondern das ist Faschismus mit Ansage.  

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Die AfD konnte ihre Themen platzieren

Die momentane Stärke der AfD, vor allem in Ostdeutschland, beruht auf einer fatalen Entwicklung der letzten Jahre: Die sogenannten Volksparteien haben zugelassen, dass die AfD in der öffentlichen Debatte ihre Themen platzierte, so etwa die Mär der angeblichen Bedrohungslage durch zu viel Migration – und etliche Politiker anderer Parteien übernahmen dieses Narrativ.

Das Ergebnis: Dadurch rückte das Thema in den Medien in den Vordergrund, ganz unabhängig von der tatsächlichen sozialen Lage in Deutschland, und die AfD-Politiker bekamen den Status von Experten. Indem sich CDU und FDP inhaltlich ebenfalls auf die Eindämmung von Migration fokussierten, haben sie die AfD enorm gestärkt. Diese Strategie ist völlig fehlgeschlagen. 

Die bürgerlichen Parteien müssen also dringend aufhören, Themen der AfD zu übernehmen und ins Zentrum ihrer eigenen Politik zu rücken. Die AfD ist rechtsradikal, und wie alle Rechtsradikalen schürt sie Rassismus und Ressentiments gegen Einwanderer. 

Ihrer Ansicht nach ist Migration die Wurzel allen Übels, und wenn alle Menschen mit Migrationsgeschichte Deutschland verlassen würden, wären sämtliche Probleme des Landes auf magische Weise gelöst. Das ist natürlich völliger Unsinn – abgesehen davon, dass dieser Plan rassistisch, menschenfeindlich und illegal ist.

Sowohl Wirtschaft wie auch Wissenschaft sagen in aller Deutlichkeit, dass Deutschland mit seiner überalterten Bevölkerung sehr viel mehr Einwanderung als bisher benötigt, nicht weniger.  

Der Frankfurter Römer war zu klein für die rund 35.000 Demonstranten - viele mussten in Seitengassen ausweichen.
"Die schweigende Mehrheit ist aufgewacht. Die Veröffentlichung der Deportationspläne der AfD treibt empörte Menschen auf die Straße. Tag für Tag demonstrieren Abertausende für ein demokratisches und vielfältiges Deutschland, gegen Rassismus und Rechtsextremismus", schreibt Sheila Mysorekar. "Das ist ein deutliches Zeichen." (Foto: Boris Roessler/dpa/picture alliance)

Reale Lösungen für reale Probleme finden

Das heißt, die Parteien müssen für die realen Probleme, die bestehen, reale Lösungen finden. Wenn es an den Schulen zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gibt, dann liegt dies nicht an der Zahl der Schüler aus migrantischen Familien, sondern es muss schlicht und einfach mehr Lehrpersonal eingestellt werden.  

Solange die AfD – und in ihrem Gefolge auch andere Parteien – den Minderheiten in Deutschland die Schuld an Schulmisere, Wohnungsnot und allem anderen in die Schuhe schiebt, werden keine Lösungen für bestehende Probleme gesucht. 

Die Parteien überbieten sich gegenseitig mit Forderungen nach härterer Abschiebung. Billigster Populismus, der nur auf Wahlmehrheiten schielt, ersetzt eine vernunftgeleitete Politik. Davon profitieren nur die AfD und alle anderen Rechtsextremen. 

Eine klare Haltung ist auch auf parteipolitischer Ebene vonnöten. Offiziell besteht zwar ein Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU, aber auf kommunaler Ebene tolerieren die großen Volksparteien bereits die AfD; gerade die FDP stimmt oft gemeinsam mit den AfD-Fraktionen ab. 

Dies muss unbedingt aufhören. Bürgerliche Parteien dürfen die Faschisten nicht normalisieren, sondern müssen sich immer, zu jedem Zeitpunkt, gegen sie positionieren, ohne Wenn und Aber – und schon gar nicht aus wahltaktischen und machtpolitischen Gründen die AfD unterstützen.  

Klare Absage aus dem bürgerlichen Lager

Dieser opportunistischen Haltung erteilen die Bürgerinnen und Bürger nun eine klare Absage. Zu Hunderttausenden gehen sie auf die Straße; Senioren, Familien mit Kindern, Deutsche mit und ohne Einwanderungsgeschichte, Menschen aus dem gesamten Spektrum der Bevölkerung, aber auch eine große Mehrheit, die aus dem bürgerlichen Lager kommt. 

Die Demonstrationen sind eine Warnung an die CDU: Die Wähler lehnen die rassistische Politik der AfD in aller Deutlichkeit ab. Das heißt, eine Koalition mit der AfD auf Landes- oder gar auf Bundesebene wäre für die CDU sehr riskant. 

Aber hat die CDU dieses Warnsignal überhaupt wahrgenommen und auf sich bezogen? Und wie reagiert die Regierung nun auf die Proteste? Wird ein Verbotsverfahren gegen die AfD angestrengt? Einfach alles aussitzen ist jedenfalls keine gute Option. 

Medien sind Teil des Problems

Die Medien sind ein Teil des Problems, weil sie die Dynamik der rechtspopulistischen Propaganda unterschätzen. Eine demokratisch gewählte Partei, die jedoch keine demokratischen Ziele vertritt, kann man nicht behandeln wie jede beliebige andere Partei. 

Ihnen und ihren Anhängern permanent Redezeit zu geben, damit sie dann weiterhin ihre menschenfeindlichen Inhalte verbreiten, ist kontraproduktiv: Wenn der öffentliche Diskurs suggeriert, dass die AfD das brennendste Thema, nämlich die Begrenzung der Migration, am häufigsten anspricht, dann leistet das den Rechtsextremen enorm Vorschub.  

Wichtiger wäre es, diejenigen Menschen zu Wort kommen zu lassen, die direkt von dieser menschenfeindlichen Politik betroffen sind, nämlich Menschen aus Einwandererfamilien. Was wird aus marginalisierten Minderheiten in denjenigen Bundesländern, wo die AfD reelle Chancen hat, die nächsten Landtagswahlen zu gewinnen? Sie sind in der öffentlichen Debatte kaum sichtbar, obwohl ihre Sicherheit konkret bedroht ist. 

Medienhäuser sollten auch diejenigen Wählerinnen und Wähler vor die Kamera holen, die trotz einer persönlich schwierigen wirtschaftlichen Lage der AfD keine Proteststimme geben, sondern stabil die Demokratie unterstützen. Warum hören wir so wenig von ihnen?  

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"Auch wir sind Bürger dieses Staates"

Erst jetzt, wo Hunderttausende auf die Straße gehen, wird klar, dass die sogenannte schweigende Mehrheit nicht auf der Seite der Faschisten steht. Forderungen nach einem Verbot der AfD werden nun endlich ernsthaft diskutiert.  

Wie man ethnische und religiöse Minderheiten schützen kann, die von den Rechtsextremen ernsthaft bedroht sind, ist allerdings kaum ein Thema. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hat eine internationale Familie. 

Dass Millionen von Menschen verunsichert sind und Angst vor einem Wahlsieg der AfD haben, dass sie sich möglicherweise schon überlegen, das Land zu verlassen, darf nicht einfach so hingenommen werden. Auch wir sind Bürger dieses Staates, auch wir müssen geschützt werden. Wir sind die erste Zielscheibe der Rechtsextremen. Uns geht es nicht um Parteipolitik, sondern dies betrifft unser Leben.  

Dennoch: In der Zivilgesellschaft spürt man die Erkenntnis, dass unsere Demokratie in Gefahr ist. Schweigen bedeutet Zustimmung; um so wichtiger ist es, dass Abertausende Menschen ihre Stimmen erheben, trotz Kälte und Schnee auf die Straße gehen und somit den Druck auf die Politik erhöhen. 

Die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft positioniert sich ganz offensichtlich gegen die Faschisten – und das ist sehr beruhigend. Doch die Frage ist, was sich jetzt daraus ergibt und welche Konsequenzen gezogen werden. Politik und Zivilgesellschaft müssen nun gemeinsam aktiv werden. 

Viele Plakate, die auf den Demonstrationen zu sehen waren, hatten die Aufschrift "Nie wieder ist jetzt!“, in Anspielung auf die Zeit des deutschen Faschismus. "Nie wieder“ ist ein geflügeltes Wort in Deutschland; jeder weiß, worauf sich das bezieht. 

Bisher wurden jedoch die Warnsignale ignoriert, dass es eine Neuauflage dieser schlimmsten Zeit geben könne. Wenn Faschisten durch demokratische Wahlen an die Macht gelangen, ist es zu spät, sie zu stoppen. Wir müssen sie jetzt daran hindern, ihre Propaganda zu verbreiten und unter dem Deckmantel der Demokratie an die Macht zu drängen. "Nie wieder" ist jetzt!

Sheila Mysorekar

© Qantara.de 2024 

Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk von rund 200 postmigrantischen Organisationen und Vereinen.