"Den patriarchalen Klischees entgegenwirken“ 

Das Morgenland Festival Osnabrück hat in der deutschen Festivallandschaft mit seinem Fokus auf Musik zwischen Levante und Zentralasien eine Ausnahmestellung.
Das Morgenland Festival Osnabrück hat in der deutschen Festivallandschaft mit seinem Fokus auf Musik zwischen Levante und Zentralasien eine Ausnahmestellung.

Das Morgenland Festival Osnabrück hat in der deutschen Festivallandschaft mit seinem Fokus auf Musik zwischen Levante und Zentralasien eine Ausnahmestellung. Vor der 18. Ausgabe am 21. Juni sprach Stefan Franzen mit Festivalleiter Michael Dreyer über das musikalische Konzept, die politische Dimension, und ob der Begriff "Morgenland“ noch zeitgemäß ist. 

Von Stefan Franzen

Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt? 

 

Michael Dreyer:
Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Ich hatte viele Kontakte zu Musikern im Iran und etliche Leute fragten mich: "Warum machst du nicht in Berlin oder Hamburg mit ihnen ein Festival, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber es stellte sich heraus, dass Osnabrück wegen seiner überschaubaren Größe für Musiker und Publikum toll ist.



Da begegnen sich beide Seiten nach den Konzerten in der Einkaufszone und alles ist fußläufig erreichbar. Das Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi (der Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang in China, Anm. der Red.). Und natürlich passt der Titel "Friedensstadt“ wunderbar zum Festival, aber das hat sich nur zufällig so ergeben. 

Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort "Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit "Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses Wort mit seinen Assoziationen an Märchen noch zeitgemäß?

Dreyer: Als ich 2005 begann, den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem Nahen Osten nur schlimme politische Nachrichten, wusste aber nichts über die Zivilgesellschaften. Die meisten Menschen hatten keine Vorstellung, was für ein Spektrum an Musik es dort gibt, bis hin zum Hip Hop. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, auf das Morgen hin gedacht.

Die Musikerin Melisa Yildirim; Foto: C. Nilay Islek
Musikalische Begegnung über kulturelle Grenzen hinweg: Die türkische Kamanche-Spielerin Melisa Yıldırım wird beim Eroffnungskonzert des Morgenland Festivals Osnabrück gemeinsam mit der indischen Tablakünstlerin Swarupa Ananth spielen. Yıldırım studierte in Istanbul und ihre Kompositionen sind von der traditionellen Musik Anatoliens inspiriert. Auf vielen Reisen erweiterte sie seither ihr Repertoire. Zuletzt ist gemeinsam mit Swarupa Ananth ihr Album "Hues of Imagination“ erschienen.



Da jetzt auch die englischen Besucher von "Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Und es ist ja nicht die ganze islamische Welt, die wir vorstellen, den Maghreb habe ich weitestgehend ausgespart, denn es gibt genug Afrika-Festivals, die den Maghreb und Mali abdecken. Korrekt müsste man es "Westasien“-Festival nennen. Und musikalisch könnte man sagen, es geht um den Raum, in dem die Musik auf dem Maqam basiert. 

Frauen treiben die Veränderung voran

Als einen Schwerpunkt der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst? 

 

Dreyer:
Das Morgenland-Festival wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass in islamischen Ländern alles patriarchal geprägt ist. Aber was wir im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, welche starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen am besten ausgebildet, über sie wird die gesellschaftliche Veränderung laufen. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.  

 

Das Miteinander von Musikern aus dem "Morgenland“ mit den Musikern aus dem "Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?  

 

Dreyer:
Letzteres würde ich nicht sagen. Alle, die dieses Jahr dabei sind, sind sehr offen. Was in der Vergangenheit ganz oft gemacht wurde: Es treffen sich Musiker verschiedener Kulturen, am Ende eines Stückes gibt es einen wahnsinnig langen Orgelpunkt, ein Bordun, alle machen tolle Soli, und man denkt: Wahnsinn, was für ein Austausch! Aber so ist es ja nicht.

Ich lade Musiker ein, die einen darüber hinausgehenden Austausch versuchen. Das funktioniert mit der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert denkt, und mit dem Jazz, weil alle als improvisierende Musiker schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterbricht, bei dem beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren würden. Beide Seiten sollen ihre Identität bewahren und daraus Neues entstehen lassen. Das ist die Utopie im musikalischen Dialog.

 

 

 

Musikalische Begegnung zwischen Ost und West

In den Begegnungen zwischen Ost und West spielen im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr steht die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne. 

 

Dreyer: Die Idee geht darauf zurück, dass ich Daniel Barenboim iranische Musiker für sein West-Eastern Divan Orchestra vermittelt habe. Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische und arabische Musiker und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren etwas mit Musik aus der Region.

Dann habe ich das Morgenland Chamber Orchestra gegründet, vor allem mit Studenten aus Iran, Aserbaidschan und Irak, und ein paar Leuten auch aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Und bei ihr gab es immer die Idee, dass wir das auch einmal mit großem Orchester machen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker, der tatsächlich auch für Helene Fischer arbeitet, dem aber so eine Arbeit besonders viel Spaß macht. 

 

Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden? 

 

Dreyer: Layale Shaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens "The Bow And The Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85.



Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und das geplante Stück war auch nicht zu kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Vertonung von Poesie, des iranischen Dichters Hooshang Ebtehaj. Das passt noch besser in dieses Programm, das in diesem Jahr erheblich von Frauen geprägt ist.

 

 

"Wir geben keine politischen Statements ab"

 



 Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen? 

 

Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man da von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten.



Wir hatten damals auch ein Stück von Frank Zappa im Programm und ich dachte mir: Die iranische Führung wird wohl kaum Propaganda mit uns machen können, wenn wir was von Zappa spielen! Wir hatten Hunderte von Künstlern aus Ländern hier, die nicht dafür bekannt sind, mit Israel befreundet zu sein, aber es gab nicht ein einziges Mal irgendwo antisemitische Äußerungen. Wenn das passieren würde, wäre es mein Job, einzugreifen. Abgesehen davon hatten wir ja auch israelische Künstler zu Gast.



Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung dazu, doch die gehört hier nicht hin. Natürlich ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.  

 

Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu organisieren, in wenigen Worten zusammenfassen? 

 

Dreyer: Politisch kann man immer alles auf ein negatives Fundament stellen und sagen: Wie schlimm, dieser Eurozentrismus! Was sicher auch stimmt. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!   

Das Interview führte Stefan Franzen.

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