Die Absurdität des Lebens

Moroccan author Mohamed Choukri
Unberechenbar und rabiat: Der marokkanische Schriftsteller Mohamed Choukri (1935-2003) provoziert in seinen Erzählungen, mit dem, was er schreibt und wie er es schreibt. (Foto: epa/afp/senna/dpa/picture-alliance)

In Mohamed Choukris experimenteller Sammlung "Tales of Tangier“ (dt. "Erzählungen aus Tanger“) trifft das Hyperreale auf das Bizarre. Die skurrilen Geschichten des verstorbenen Autors scheinen sich zu überschlagen, so schnell und unberechenbar, dass sie den Leser immer wieder aufs Neue überraschen.

Von Marcia Lynx Qualey

Tales of Tangier, von Jonas Elbousty ins Englische übersetzt und bei Yale University Press veröffentlicht, enthält alle Kurzgeschichten des Autors. Diese Sammlung macht deutlich, warum Choukri nicht nur eine leidenschaftliche Fangemeinde um sich scharren konnte, sondern auch warum er wütende öffentliche Proteste auslöste. 

Der Autor saß als junger Mann im Gefängnis, wo er Lesen und Schreiben lernte. Nach seiner Entlassung wurde er ein ebenso leidenschaftlicher Leser wie ein gekonnter Erzähler. Doch trotz seiner literarischen Erfolge hat er die kleinen Leute Marokkos nie aus den Augen verloren. Ebenso wenig hat er sich gesellschaftlichen oder literarischen Konventionen gebeugt. 

Schauplatz seiner Kurzgeschichten sind meist die Armenviertel von Tanger, der nördlichsten Stadt Marokkos. Er erzählt mit schonungsloser Offenheit. Die Figuren in Choukris Kurzgeschichten kennen wenig bis gar keine Privatsphäre. Die Frauen sind oft Prostituierte, die Kinder betteln auf der Straße, und die Männer sterben plötzlich und vor aller Augen. 

Bizarre und plötzliche Todesfälle

In "A Strange Corpse" (1971) (dt. "Eine seltsame Leiche") fällt ein Toter vom Himmel und landet auf einem öffentlichen Platz.  Wir werden Zeuge, wie der Mann stirbt: "Von überall her strömen die Menschen herbei. Der Sterbende blickt in den lichten Himmel, während das Licht in seinen Augen allmählich erlischt.  Regungslos liegt er da.“ 

Obwohl diese Geschichte ein Geheimnis birgt, ist sie kein Krimi. Vielleicht wurde der Mann ermordet. Vielleicht hat er sich vom Balkon gestürzt. Wir erfahren weder etwas über sein Leben noch über seinen Tod. Stattdessen dreht sich die Geschichte um seine Leiche, zu der die Menschen strömen, um das "Seltsame" daran zu sehen.  

Die Menschen lassen ihre Arbeit liegen. Manche verbringen die Nacht dort. Eine Frau bringt sogar ihr Kind neben dem Leichnam zur Welt. Über die Beweggründe der Menschen lesen wir nichts, nur dass sie trotz aller Widrigkeiten ausharren. "Die Menschen stehen und sitzen in wechselnden Schichten an den besten Plätzen mit Blick auf die Leiche. Viele haben Decken, Kissen, Geschirr und Gaskocher dabei." 

In der gesamten Kurzgeschichtensammlung wirkt der Tod auf die Menschen oft wie ein Magnet. In "The Three Mouths“ (dt. "Die drei Münder“) schlägt ein Jugendlicher einem Geisteskranken ins Gesicht. Zunächst applaudiert die Menge – schließlich hatte der Mann im Ramadan tagsüber eine Limonade getrunken – doch als der Mann kurz darauf stirbt, schlägt die Stimmung um. 

Cover of Mohamed Choukri's "Tales of Tangier", translated into English by Jonas Elbousty
Keine dystopische Vision: In allen Kurzgeschichten Choukris geht es schlicht um das Leben. "Dunkel und pulsierend, voller Sex und Tod und jeder Menge Fliegen", schreibt Marcia Lynx Qualey. (Quelle: Yale University Press)

Provokant in Form und Inhalt

Choukri provoziert in seinem Erzählband mit dem, was er schreibt und wie er es schreibt. Er beschreibt nicht nur Sex, Tod und Wahnsinn auf der Straße, auch die Geschichten selbst sind unberechenbar und rabiat. Sie wechseln die Perspektive, enden abrupt und folgen keinem bestimmten Muster. 

In "Shahryar and Shahrazad" (dt. "Schahryâr und Scheherazade") heißen alle Männer in der Geschichte Schahryâr und alle Frauen Scheherazade, sodass man sie kaum unterscheiden kann.

In "Children Are Not Always Stupid" (dt. "Kinder sind nicht immer dumm“), ziehen sieben Kinder mit einem leeren Schild und einer weißen Taube in einem grünen Käfig durch die Stadt. Immer mehr Kinder schließen sich dem stummen Marsch an. Sie führen verschiedene Haustiere mit sich. 

Am Ende lassen die Kinder alle Tiere frei. Die Zuschauer applaudieren und die Kinder rufen: "Lang leben die Tauben!", "Lang leben die Spatzen!", "Lang leben die Hühner!", "Lang leben die Kaninchen!", "Lang leben die Katzen!", "Lang leben die Hunde!" 

Oberflächlich betrachtet ist die Geschichte seltsam heiter. Bis auf ein Kind, dessen Mutter ihm verbietet, mitzumachen, sind alle glücklich. Selbst die Autofahrer im Stau beklagen sich nicht. Nachdem die Kinder die Tiere freigelassen haben, die doch so wichtig für den Lebensunterhalt der Familien sind, umarmen und küssen die Eltern ihre Kinder. Diese übertriebene Fröhlichkeit erzeugt ein Gefühl des Unbehagens. 

Untouchable writers

Wie die Geisteskranken und die Prostituierten sind auch die Schriftsteller ein gefährliches Element in dieser Kurzgeschichtensammlung. In "The Poets" (dt. "Die Dichter") holt die Regierung neun Dichter aus dem Gefängnis und stellt sie öffentlich zur Schau. Den Dichtern wird befohlen, ihre Bücher vor der aufgebrachten Menge zu vernichten. Als sich die Dichter diesem Spektakel verweigern, werden sie wieder ins Gefängnis geworfen. 

In "Talking About Flies is Banned" (dt. "Sprechen über Fliegen ist verboten") gerät ein Journalist ins Visier. Aus dem Gefängnis entlassen, wird er aus einem Auto in eine kalte, unfreundliche Stadt geworfen.  Dort sieht er sein Foto an einer Hauswand mit der Warnung: „Amarouche Telimsani. Der Kontakt mit dieser Person ist unter keinen Umständen erlaubt. Wer diese Warnung missachtet und mit ihm verkehrt, wird strafrechtlich verfolgt“. Dieses Bild hängt überall. Jeder scheint es zu kennen und den Journalisten zu fürchten. 

 

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Die einzigen, die bereit sind, mit ihm zu sprechen, sind diejenigen, die ihn entkleiden wollen, um ihn seiner Strafe zuzuführen. Als er ihnen zu verstehen gibt, dass er immer noch nicht weiß, was er getan hat, erklärt ihm ein Mann, dass er einen Artikel über Fliegen geschrieben habe, "obwohl man doch weiß, dass die Fliegen seit etwa 25 Jahren ausgestorben sind". Der Beschuldigte entgegnet, dass er nie über Fliegen geschrieben habe – ganz abgesehen davon, dass es Fliegen offensichtlich immer noch gibt. In dieser Geschichte, wie in vielen anderen in Tales of Tangier, trifft ein dunkler, derber Humor auf existenzielle Fragen Horror. 

In Tales of Tangier sterben ständig Menschen.Sie werden vom Staat umgebracht, von ihren Mitmenschen oder sie sterben ohne ersichtlichen Grund.  Wie ein Mann in "Aisha" sagt: "Für uns arme Leute ist es leicht, einander zu töten." Am Ende spendet uns Choukri keinen Trost wie im Märchen. Aber es ist auch keine dystopische Vision. Es ist einfach das Leben: Dunkel und pulsierend, voller Sex und Tod und jeder Menge Fliegen. 

Marcia Lynx Qualey 

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