Aus einem vergessenen Land  

Am 15. August jährte sich die Rückkehr der Taliban in Kabul zum zweiten Mal. Emran Feroz ist in den letzten Wochen durch das Land gereist und berichtet für Qantara.de über den Alltag in Kabul. 
Am 15. August jährte sich die Rückkehr der Taliban in Kabul zum zweiten Mal. Emran Feroz ist in den letzten Wochen durch das Land gereist und berichtet für Qantara.de über den Alltag in Kabul. 

Am 15. August jährte sich die Rückkehr der Taliban in Kabul zum zweiten Mal. Emran Feroz ist in den letzten Wochen durch das Land gereist und berichtet für Qantara.de über den Alltag in Kabul. 

Von Emran Feroz

"Es gibt hier fast niemanden, der nicht raus will“, sagt Mohammad Zahed, während er auf dem Boden seines Gästezimmers sitzt und Obst für seine fünfjährige Tochter schneidet. Die Frage, wie man dem Alltag in Afghanistan entfliehen könne, sei meist Tischthema. Gleichzeitig boome der Markt für Reisedokumente. Wer ein Visum für Pakistan, Iran oder Kasachstan möchte, muss mittlerweile eine dreistellige Summe hinblättern.

Ähnliches gilt für einen afghanischen Reisepass. Einst war Zahed als Kommunikationstechniker für die deutsche Bundeswehr und die US-Truppen tätig. Er legte Leitungen, verdiente gutes Geld und gewann neue Freunde. Ohne seine Expertise hätten jene westlichen Soldaten, die zwanzig Jahre lang in Afghanistan stationiert waren, nicht miteinander kommunizieren können.



Dann, im August 2021, kamen die Taliban. Die internationalen Truppen zogen ab und alles brach zusammen. "Sie haben sich ihrer Verantwortung entzogen“, resümiert Zahed heute. Er meint damit nicht nur die politische Verantwortung des Westens im Allgemeinen für das Desaster, sondern auch die Verantwortung für ihn persönlich.



Im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Ortskräften wurde Zahed bis heute von niemandem evakuiert. Er lebt weiterhin mit seiner Familie in Kabul oder besser gesagt: Er ist in Kabul untergetaucht. Als einstiger Verbündeter der westlichen Truppen gilt er in den Augen der neuen Machthaber als Feind und Verräter.



Dass er Teil eines kriegsbesessenen Militärapparates war, dem es nie um das Wohl der Afghaninnen und Afghanen ging, hat Zahed erst später verstanden.

Arbeitende Kinder in Afghanistan; Foto: Ebrahim Noroozi/AP Photo/picture alliance
Kinder in Afghanistan: Angesichts der katastrphalen humanitären Situation müssen in vielen Familien Kinder mit zum Unterhalt der Familie beitragen. Aber die Kinder werden auch von den Taliban instrumentalisiert und eifern ihnen nach. „Ich möchte wie mein Vater werden. Irgendwann habe ich meine eigene Einheit“, sagt der gerade mal achtjährige Bilal. Wenige Meter von ihm entfernt, nahe des Dar ul Aman-Palasts im Westen Kabuls, patrouilliert Bilals Vater mit einigen anderen Taliban-Kämpfern.

Ein neues Islamisches Emirat Afghanistan

Seit nun zwei Jahren regieren die militant-islamistischen Taliban wieder Afghanistan. Die alte Armee ist zerfallen, die republikanische Regierung ins Exil geflüchtet. Im Oktober 2001, nach den Al Qaida-Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, war die NATO unter der Führung der USA ins Land einmarschiert und das "Islamische Emirat Afghanistan“ fiel.

Der "Krieg gegen den Terror“ begann: Er traf hauptsächlich unschuldige Afghanen, während viele der Taliban-Führer, die nach vermeintlich präzisen Anti-Terroroperationen des US-Militärs oder der CIA für "tot“ erklärt worden waren, lebend wieder auftauchten und ihren Erfolg zelebrierten.



Nun ist das Taliban-Emirat wieder eine Realität, der man sich nicht entziehen kann. Die weißen Flaggen mit der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis, sind in verschiedenen Formaten omnipräsent. Mehrere Millionen US-Dollar sollen die Taliban dafür ausgegeben haben, während die Bevölkerung hungert und von einer Krise in die nächste rutscht.  

Am vergangenen Dienstag (15.08.) feierten die Taliban ihren "Sieg“ über die westlichen Truppen und ihre afghanischen Verbündeten wie im vergangenen Jahr in propagandistischer Manier. Mit Auto- und Motorradkolonnen fuhren sie durch die Stadt, die weißen Flaggen schwenkend. Die Show war nur für sie selbst gedacht. Viele andere Afghanen wurden praktisch in ihre Häuser verbannt.

Läden mussten schließen und die Straßen der Hauptstadt waren wie leergefegt. Denn die neuen Machthaber fürchten sich vor jenen Bombenanschlägen, die sie einst selbst verantwortet haben. Die größte Gefahr geht weiterhin von der afghanischen IS-Zelle aus. 

Von korrupten Politikern und Militärchefs verkauft

Viele Afghanen sind der Meinung, dass die Taliban nicht militärisch besiegt worden sind. Stattdessen sei das Land durch politische Deals verkauft worden, vor allem durch eine im Golfemirat Katar zwischen den Taliban und der Trump-Administration getroffene Vereinbarung in 2020, und dank korrupter Politiker und Militärchefs.

Afghanistan. Mädchen, die keine weiterführenden Schulen besuchen können, werden von Freiwilligen unterrichtet; Foto: Mohammad Noori/AA/picture alliance
Unterricht im Untergrund: Freiwillige unterrichten Mädchen, die keine weiterführende Schule mehr besuchen dürfen. Auch Universitätskurse für Frauen werden im Untergrund weitergeführt, genauso wie die Schönheitssalons, die die Taliban jüngst verboten haben. Sie haben nicht nur vielen Frauen eine wirtschaftliche Existenz ermöglicht, sondern waren auch ein wichtiger Treffpunkt. „Diese Idioten sehen überall Prostitution und Moralverfall“, sagt ein Arbeiter wütend, während er beim Ausräumen eines Schönheitssalons hilft. Wer seinen Salon nicht ausräumt, muss mit Strafen und Enteignung rechnen.



Doch auch das ändert nichts mehr an dem Narrativ, das die neuen Machthaber durchsetzen wollen. Vor einem Jahr marschierten maskierte Extremisten durch die Hauptstadt, während die Angehörigen von Selbstmordattentätern vom Regime hofiert wurden. Der staatliche Radio- und Fernsehsender RTA, der sich einst bemühte, divers und modern zu erscheinen, stellte Sprengstoffwesten, Kalaschnikows und Handgranaten zur Schau.



Auch Kinder werden von den Taliban instrumentalisiert und eifern ihnen nach. "Ich möchte wie mein Vater werden. Irgendwann habe ich meine eigene Einheit“, sagt der gerade mal achtjährige Bilal. Wenige Meter von ihm entfernt, nahe des Dar ul Aman-Palasts im Westen Kabuls, patrouilliert Bilals Vater mit einigen anderen Taliban-Kämpfern.

Der Kabuler Sommer macht auch ihnen zu schaffen. Vorbeifahrende Autos werden desinteressiert durchgewunken. "Was sollen diese Kinder sonst schon lernen. Die Gewalt ist allgegenwärtig – und sie wird die Zukunft sein“, sagt Hakim (der Name ist geändert, Anm. der Red.), der sich mittlerweile nicht nur an Bilal und seinen Vater, sondern an die meisten Taliban-Kämpfer in der afghanischen Hauptstadt gewöhnt hat. Früher wagte sich der Taxifahrer kaum aus Kabul heraus und mied jene Gebiete, die von den Taliban kontrolliert wurden.

Kaum noch Widerstandsnester

Doch heute kann sich niemand den neuen Machthabern entziehen. Sie kontrollieren praktisch das gesamte Land und tummeln sich mittlerweile auch in den Cafés und Restaurants, die sie einst in die Luft jagten. In den Provinzen Baghlan und Panjsher, wo sich einige Widerstandskämpfer bis heute verschanzt haben sollen, tut sich nicht mehr viel.



In beiden Regionen soll es seit der Machtübernahme der Taliban Kriegsverbrechen gegeben haben. Eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich. Journalisten, die – wenn überhaupt – in diese Provinzen gelassen werden, bekommen einen Talib an die Seite gestellt.  

Vor allem im Panjsher-Tal nördlich von Kabul, das in den 1990er-Jahren unter dem Mudschaheddin-Kommandanten Ahmad Shah Massoud als Anti-Taliban-Bastion bekannt wurde, dominiert heute die Unterdrückung der neuen Machthaber, wohl auch aus Rache.

Doha: Zalmay Khalilzad (2.v.l), US-Sondergesandter für Aussöhnung in Afghanistan, und Mullah Abdul Ghani Baradar (2.v.r), Leiter des politischen Büros der Taliban, unterzeichneten am 29.2.2020 ein Abkommen, das Frieden für Afghanistan bringen sollte.
Zweifelhafte Deals: Vertreter der Taliban und der US-Regierung verhandeln 2020 in Doha, Katar. Viele Afghanen sind der Meinung, dass die Taliban nicht militärisch besiegt worden sind. Stattdessen sei das Land durch politische Deals verkauft worden, allen voran einer im Golfemirat Katar zwischen den Taliban und der Trump-Administration getroffenen Vereinbarung, und dank korrupter Politiker und Militärchefs.



Während der US-Besatzung Afghanistans wurden mehrere Kernministerien, darunter etwa das Verteidigungs- sowie das Innenministerium, von Massouds einstigen Kommandanten dominiert. Massoud selbst wurde zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September 2001 von Al Qaida-Extremisten getötet. Wer heute nach Panjshir will, muss sich den Taliban stellen und ist massiver Überwachung ausgesetzt.

Das gilt auch für gewöhnliche Afghanen aus anderen Provinzen. "Wir wurden befragt und mussten letzten Endes gehen“, erinnert sich Karim Mohammadi. Gemeinsam mit seinen Freunden hatte der 25-jährige Student einen Tagestrip ins Tal geplant, doch ihnen wurde von den Taliban-Kämpfern vor Ort der Zugang verwehrt.

Die Menschen aus Panjsher lebten praktisch in einem Freiluftgefängnis, meint Mohammadi. Doch viele gehen in ihrer Einschätzung weiter und meinen, mittlerweile sei ganz Afghanistan das Gefängnis. Seit der Rückkehr der Taliban ist das Land in die Isolation zurückgefallen. Die humanitäre Katastrophe und die wirtschaftliche Stagnation sind überall zu spüren.

Jüngst verfügt: Massenschließung von Schönheitssalons

Besonders schlimm ist die Situation für Mädchen und Frauen, die vom Schul- und Universitätsverbot der Taliban betroffen sind. Hinzu kommen stetig neue Arbeitsverbote. Für Aufsehen und Empörung sorgte die jüngst verfügte Massenschließung von Schönheitssalons. "Ich hatte sechs Lehrlinge. Meinen Salon leitete ich fünfzehn Jahre lang. Dass ich nun schließen muss, ist nicht nur mein Ruin“, sagt Sharifa, Anfang 50, aus dem Westen Kabuls.

Während einige Arbeiter ihren Salon ausräumen, ist sie den Tränen nahe. Sharifa erzählt, dass Salons wie ihrer nicht nur die Existenz von vielen Frauen gesichert und deren Unabhängigkeit gefördert haben, sondern auch Treffpunkte waren. Frauen unter sich eben.

Die Taliban können damit nichts anfangen. Ihre Sittenwächter, die stets paranoid durch die Stadt geistern, um möglichen "moralischen Vergehen“ auf die Schliche zu kommen, haben dafür kein Verständnis. "Diese Idioten sehen überall Prostitution und Moralverfall“, sagt einer der Arbeiter wütend, während er Sharifa beim Ausräumen hilft. Wer seinen Salon nicht ausräumt, muss mit Strafen und Enteignung rechnen.

 

 

Wie sehr die Taliban mit diesem Schritt den afghanischen Frauen das Kreuz brechen, wird an der hohen Zahl der Schönheitssalons deutlich. Mehrere Zehntausend existierten bis vor Kurzem im gesamten Land. Ähnlich wie Oberstufenschulen und Universitätskurse für Mädchen werden auch die Salons nun im Untergrund weitergeführt.

Sharifa will weiterhin arbeiten – von zuhause aus. "Meine Friseurin hat ihr Haus bereits umfunktioniert. Ich werde sie weiterhin aufsuchen“, sagt Samira Rahmani, eine Lehrerin aus Kabul. Dann erzählt sie von einer Bekannten, die nun vorhat, nach Pakistan zu flüchten. "Sie möchte ihren Salon dort wiedereröffnen“, sagt sie.  

Für Mohammad Zahed hingegen ist klar, dass das Afghanistan der Taliban seiner Familie keine Zukunft bieten kann. "Das wird nie der Fall sein. Diese Menschen werden sich nie ändern und ich muss an meine Töchter denken“, sagt er. Nachdem die Deutschen ihn zurückgelassen haben und auf seine Mails nicht mehr reagieren, will er sein Glück in den USA versuchen. Für ein SIV – ein Special Immigrant Visa – hat er sich, ähnlich wie Hunderttausende von Afghanen, bereits beworben.

Ein alter Freund beim US-Militär will ihm helfen. "Die Taliban können das Land gerne haben – zusammen mit all jenen, die so wie sie denken“, sagt Zahed.

Emran Feroz

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