Was wird aus Atatürks Erbe?

Mustafa Kemal Ataturk (left) and Recep Tayyip Erdogan (right) displayed on banners during a naval display in Istanbul
Recep Tayyip Erdogan will als der Staatsmann in die Geschichte eingehen, der die Republik Türkei in ihr zweites Jahrhundert geführt hat.

Vor 100 Jahren hat Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik ausgerufen. Westlich, modern, säkular und friedlich sollte sie sein. Heute sehen viele Türken sein Werk in großer Gefahr.

Von Elmas Topcu

Gibt es eine große Staatsfeier oder nicht? Wochenlang rätselten vor allem säkulare Türken darüber, wie die islamisch-konservative Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das 100. Jubiläum der Republikgründung am 29. Oktober begehen wird. Denn bis vor wenigen Tagen stand nicht mal ein offizielles Programm auf der Tagesordnung. Auch ausländische Diplomaten sollen sich untereinander gefragt haben, ob jemand eine Einladung bekommen habe.

Erst vergangenen Freitag (20.10.) verkündete dann Erdogans Kommunikationsabteilung, es werde eine Veranstaltungsreihe geben – die jedoch überwiegend die Ära Erdogan hervorhebt. Säkulare Türken fühlen nun ihre Befürchtungen bestätigt, Erdogan versuche, das Erbe des Gründungsvaters Atatürk zu verwischen, dessen Platz einzunehmen, einen Erdogan-Kult und ein islamistisches Land zu schaffen.

Erdogan will Atatürks Platz einnehmen

Das "türkische Jahrhundert" lautete Erdogans Wahlkampfmotto, mit dem er im Mai die Wahlen erneut gewonnen und für weitere fünf Jahre seine Macht gesichert hatte. Seit über 20 Jahren ist er bereits an der Regierung. Nun will er in die Geschichte eingehen als derjenige Staatsmann, der die Republik in ihr zweites Jahrhundert geführt hat.

Beate Apelt, Leiterin des Türkei-Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, sieht im Vorfeld des runden Jubiläums tatsächlich viel Symbolik, die Erdogan auf dieselbe Bedeutungsebene wie Atatürk hebt. Neben dem Ausdruck "türkisches Jahrhundert" seien das unter anderem gleichgroße Porträts der beiden Staatsführer Seite an Seite. Das suggeriere, dass Atatürk der Initiator, Erdogan der Vollender eines großartigen Jahrhundertprojektes sei, so Apelt.

Sie beobachtet einen wachsenden Unmut vieler Türken darüber, dass der 100. Gründungstag der Republik nicht mit Pomp gefeiert wird. Zudem seien viele Festveranstaltungen mit religiösen Elementen verbunden. Nach Apelts Meinung ist das "sicher auch nicht im Sinne Atatürks".

A woman waves two Turkish flags bearing Ataturk's likeness in front of his mausoleum in Anitkabir
Westlich, modern und säkular: Das arabische Alphabet ließ Atatürk gegen das Lateinische austauschen, westliche Gesetzbücher wurden übernommen, das Wahlrecht für Frauen eingeführt. (image: Evrim Aydin/Anadolu)

Gründungsvater Mustafa Kemal Atatürk hatte eine klare Trennung von Staat und Religion eingeführt. Mit dem Laizismus-Prinzip hatte er auch religiöse Bruderschaften verboten und das Kalifat abgeschafft, weswegen Islamisten heute noch Groll gegen ihn hegen.

Erdogan dagegen unterstützt seit seiner Machtübernahme solche religiösen Gruppen und räumt ihnen viele Privilegien ein. Den vollen Namen Mustafa Kemal Atatürk spricht er niemals aus. Für ihn ist er immer "Veteran Mustafa Kemal". "Atatürk" heißt nämlich "Urvater der Türken". "Das scheint er nicht zu akzeptieren", lautet die weitverbreitete Kritik. Auch Atatürks liberales Privatleben, seine Beziehungen zu mehreren Frauen und sein Alkoholkonsum werden in AKP-Kreisen verabscheut. 

Atatürks Türkei - Erdogans Albtraum?

Staatsgründer Atatürk wollte eine westliche, moderne und säkulare Republik. Innerhalb weniger Jahre hat er viele Reformen angeordnet. Das arabische Alphabet ließ er gegen das Lateinische austauschen, westliche Gesetzbücher wurden übernommen, das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Ein Hutgesetz sollte dafür sorgen, dass sich das Volk von osmanisch-religiösen Kopfbedeckungen wie Fez oder Turban verabschiedet und sich wie in London, Berlin und Paris kleidet.

Ein fernes Ziel war es auch, aus den Trümmern des Vielvölkergebildes Osmanisches Reich eine türkische Nation zu schmieden. Dies ging nur bedingt in Erfüllung. Minderheiten wie Armenier, Aleviten und Kurden kämpfen immer noch um ihren Platz in der türkischen Republik. Allein beim bewaffneten Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK kamen seit 1984 fast 40.000 Menschen ums Leben. 

Die Reformen werden heute oft als erstes mit dem Namen Atatürk verbunden. Sie seien damals aber zweitrangig gewesen, sagt Salim Cevik, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. In der damaligen Situation - nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem zermürbenden Befreiungskrieg gegen die Siegermächte - hätten Atatürk und seine Gefolgsleute nur ein Ziel gehabt: das übriggebliebene Staatsgebilde vor dem kompletten Niedergang zu retten und eine starke Republik zu gründen, die jeglichem Angriff von innen und außen standhalten sollte.

"Und das haben sie zum größten Teil geschafft", so Ceviks Bilanz. In den vergangenen 100 Jahren sei der türkische Staat zu einer starken Regionalmacht geworden, deren Existenz von außen nicht mehr in Frage gestellt oder bedroht werde. Durch die Mitgliedschaft in der NATO und anderen Allianzen gehöre sie heute fest zum internationalen politischen System. 
 

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Zwischen Europa und dem Nahen Osten

"Die Türkei ist eine wichtige Größe vor allem im Raum zwischen Europa und dem Nahen Osten", betont auch Beate Apelt von der Friedrich-Naumann-Stiftung. Das ergebe sich schon allein aus ihrer geostrategischen Lage als NATO-Staat zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer mit der Kontrolle über die Meerengen Bosporus und Dardanellen. Ebenso wichtig sei die zentrale Lage zwischen der EU, dem Schwarzmeer-Anrainer Russland und einer äußerst problematischen Nachbarschaft im Südosten mit Grenzen zu Syrien, Irak und Iran.

Erdogan hat diese geostrategisch zentrale Lage der Türkei in den vergangenen Jahren geschickt genutzt. Er biete sich gerne als Mittler zwischen regionalen Konfliktparteien an, so Apelt, etwa zwischen der Ukraine und Russland oder derzeit zwischen Israel und der Hamas. Ihrer Meinung nach kann Erdogan in diesem Konflikt durchaus eine konstruktive Rolle spielen, so wie beim Getreideabkommen mit der Ukraine.

Gleichzeitig versucht Erdogan, aus jeder Konstellation den maximalen Nutzen für sich und die Türkei herauszuholen. Das jüngste Beispiel, so Apelt, sei Erdogans Blockade von Schwedens NATO-Beitritt. Seine Zusage hatte Erdogan im Sommer an die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU geknüpft. 

Beate Apelt von der Friedrich-Naumann-Stiftung, die der FDP nahesteht, misst dem Land auch eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der irregulären Migration nach Europa zu - trotz des umstrittenen Flüchtlingsdeals zwischen der Türkei und der EU von 2016, nach dem Geflüchtete in der Türkei von der Weiterreise in die Europäische Union abgehalten werden sollten. In diesem Punkt werde die künftige Arbeitsteilung schwieriger, so Apelt. Denn die Akzeptanz von Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern ist in der wirtschaftlich angeschlagenen Türkei in den vergangenen Jahren massiv gesunken, während Diskriminierung und Hass gegen sie rapide zunehmen. 

Nach der Gründung der Republik vor 100 Jahren hatte Atatürk eine friedliche Außenpolitik eingeleitet. Laut Politikwissenschaftler Cevik war sein Ziel, die noch sehr junge Republik vor internationalen Krisen zu schützen. Diesem Kurs sei die Türkei auch treu geblieben - mit Ausnahme des Konflikts um die griechisch-türkische Mittelmeerinsel Zypern Mitte der 1970er Jahre.

Auch Erdogan habe in seinen ersten Regierungsjahren Konflikte in der Außenpolitik vermieden. Erst während der Revolutionsbewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings habe er die Konfrontation mit der arabischen Welt in Kauf genommen und sich auf die Seite der Aufständischen gestellt. Aber auch damals sei seine Außenpolitik friedlich gewesen. 

Seit einigen Jahren herrsche jedoch ein aggressiverer Ton und die Militarisierung nehme zu. Der Grund könnte darin liegen, dass Ankaras Soft Power in den vergangenen Jahren immer weiter an Gewicht verloren hat, so dass Erdogan militärische Stärke als einziges Mittel sehe. Vor allem die türkischen Luftangriffe auf den Nordirak und Nordsyrien stoßen international auf Kritik. Und auch die Bewaffnung von dschihadistischen Gruppen in Syrien oder die Entsendung von Söldnern nach Libyen und Berg-Karabach lösten im Westen Unmut aus.

 

Elmas Topcu

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