Das zerfallende Ich

Strassenszene in Istanbul
Hakan Bıçakcıs Roman "Schlaftrunken“ ist ein Istanbul-Roman, ein wildes Spiel mit den Genres und zugleich ein bitterer literarischer Kommentar zu den teils verheerenden Entwicklungen am Bosporus. (Foto: picture-alliance/All Canada Photos/I. Cook)

Istanbul wird gentrifiziert und ein Buchautor von Schlaflosigkeit und Alpträumen geplagt: Hakan Bıçakcıs Roman "Schlaftrunken“ lässt die Metropole am Bosporus lebendig werden.

Von Gerrit Wustmann

Es ist recht still geworden um die junge türkische Literatur in deutscher Übersetzung, seitdem es den Berliner Binooki Verlag nicht mehr gibt. Zumindest, was die mediale Aufmerksamkeit betrifft. Dennoch erscheinen immer wieder spannende Bücher, weil es andere kleine Verlage abseits der großen Publikumshäuser gibt, die sich weiterhin höchst engagiert um das Thema kümmern. Einer davon ist seit vielen Jahren der Dgyeli Verlag, der unter anderem 2022 Sine Ergüns hervorragenden Geschichtenband "Solche wie sie“ vorlegte. 

2023 folgte Hakan Bıçakcıs Roman "Schlaftrunken“ in der Übersetzung von Arzu Altug. Es ist ein Istanbul-Roman, ein wildes Spiel mit den Genres und zugleich ein bitterer literarischer Kommentar zu den teils verheerenden Entwicklungen am Bosporus. 

"Mir fielen die Augen zu, besonders das linke“, erzählt der Protagonist des Buches, Kahraman Kara, als er aus der sommerlichen Hitze der Stadt die Wohnung seiner Freundin Elif betritt. Sie informiert ihn auf einem Zettel über die riesige Spinne im Schlafzimmer, die sich zwischenzeitlich unter das Bett verzogen hat und fortan Kahramans Alpträume heimsucht. "Das Dröhnen der Istiklal-Straße hallte in meinen Ohren nach. Mir war, als käme ich von einem Schlachtfeld, auf dem nicht mehr klar war, wer gegen wen kämpfte. Ich schlief sofort ein.“  

Cover von Hakan Bıçakcıs Roman "Schlaftrunken“
Bıçakcıs rasantes Erzählen in kurzen pointierten Sätzen voller abgedrehter Ideen machen seine Geschichten aus, und ganz nebenbei gelingt es ihm, den Trubel Istanbuls so lebendig zu machen, als stünde man gerade mittendrin. (Quelle: Dagyeli Verlag)

Das alte Istanbul gibt es nicht mehr

Mit dem Einschlafen ist das allerdings so eine Sache. Meist leidet Kahraman unter einer zermürbenden Schlaflosigkeit und weiß mit der Zeit kaum noch, wann er wach ist und wann er schläft. Meist merkt er es, wenn gruselige Dinge passieren, zum Beispiel mit der Spinne. 

Er versucht, sich auf Details zu konzentrieren, die es in Träumen nicht gibt, doch eine wirkliche Hilfe ist das nicht. Der Alltag verschafft ihm kaum Gelegenheit zur Entspannung. Kahraman arbeitet an einem Buch über Istanbul. Es soll ein Reiseführer über besondere Orte in der Stadt werden: Buchhandlungen, Kinos, Theater, alte Konditoreien. 

Der Verlag verspricht eine riesige Auflage und Übersetzungen in zahlreiche Sprachen. Doch das Unglück kündigt sich schon beim Gespräch mit dem Inhaber von Beyoglus ältester Buchhandlung an: Sie werde bald schließen, sagt der Mann mitten in dem minutiös vorbereiteten Interview, das damit natürlich hinfällig ist. 

Und so geht es weiter, in immer schnellerer Folge: Eine Location nach der anderen macht dicht oder wird abgerissen. Einzig die Tanzschule gegenüber von Kahramans Wohnung bleibt in einem Viertel, das gerade von Baggern und Kränen umstellt ist, und in dem Bauzäune die abrissreifen Häuser absperren. 

Irgendwann, so viel ist sicher, wird auch das Haus dran sein, in dem Kahraman lebt. Neben den Baumaschinen wacht ein Wasserwerfer der Polizei. Worüber, fragt Kahraman sich, soll man denn schreiben, wenn alles verschwindet und gnadenlos gentrifiziert wird? Selbst über die neuen Läden könne er nicht berichten, so kurzlebig wie sie sind. Also wirft seine Verlegerin das Projekt über den Haufen: Schreib halt ein Buch über Orte, die es nicht mehr gibt, sagt sie. Immerhin: Dadurch ist seine Arbeit nicht umsonst gewesen. 

Alles löst sich auf

Nur hilft das kaum. Denn so wie die Stadt löst sich auch Kahraman Karas Leben langsam auf, wirkt verzerrt und unwirklich wie in einem Alptraum: Elif trennt sich von ihm, dann stirbt erst seine Katze und danach die Großmutter. Seine Mutter geht nach Deutschland und Kahraman zieht in einen Wohnblock auf der asiatischen Seite, in dem eigentlich niemand mehr wohnen darf, weil er nicht erdbebensicher und einsturzgefährdet ist. 

Zu allem Überfluss verliert Kahraman sein Gesicht: Auf Fotos und im Spiegel sieht er plötzlich anders aus als auf dem Bild in seinem Ausweis. "Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Foto, das Elif mir hinhielt, wollte gerade den Blick abwenden, als etwas Skurriles meine Aufmerksamkeit erregte. In meinem Inneren brach eine Eisscholle. Das war nicht ich auf dem Foto. Es war ein Mann in meinem Alter, er trug meine Kleidung und schlief zusammen mit meiner Katze auf meinem Sofa. Er ähnelte mir zwar, war aber definitiv nicht ich.“ 

Er erkennt seine eigene Stimme nicht mehr. Stück für Stück gehen die bröckelnde Realität und die Alpträume ineinander über. Szenen realer Verzweiflung wechseln sich ab mit Episoden wie aus Horrorfilmen, und hier ist Bıçakcıs Roman besonders stark: Wenn er augenzwinkernd und entgegen der inhaltlichen Schwere mit viel Humor übergangslos zwischen den Genres wechselt und sich jeder erzählerischen Eindeutigkeit entzieht, bis man als Leser genauso wenig wie Kahraman noch weiß, was real ist und was nicht. 

Kahraman, der seit der Kindheit Listen erstellt (Filmlisten, Playlisten, natürlich Listen zur Strukturierung seines Istanbul-Buches) reiht nun die dunklen Träume aneinander. Er begibt sich in eine Schlafklinik, doch alles wird nur schlimmer statt besser.  

Rasantes Erzähltempo

Hakan Bıçakcı, Jahrgang 1978, ein studierter Wirtschaftswissenschaftler, hat sich in zwanzig Jahren und mit bislang fünfzehn Romanen einen gewissen Kultstatus erarbeitet, gerade beim jüngeren Publikum in der Türkei. Er erhielt Literaturpreise und wurde von der US-Zeitschrift Newsweek zu den zwanzig besten türkischen Gegenwartsautoren gezählt. 

Sein Humor erinnert bisweilen an Autoren wie Alper Canıgüz. Sein rasantes Erzählen in kurzen pointierten Sätzen voller abgedrehter Ideen machen seine Geschichten aus, und ganz nebenbei gelingt es ihm, den Trubel Istanbuls so lebendig zu machen, als stünde man gerade mittendrin.  

Gerrit Wustmann 

© Qantara.de 2024  

Hakan Bıçakcıs, "Schlaftrunken“, Dagyeli Verlag 2023