"Die Konfessionen waren nicht durch Mauern getrennt"

Arabische Kalligraphie von Mahmoud Ibrahim
Eine Kalligraphie aus dem 8. Jahrhundert mit dem schiitischen Spruch "Ali ist der Bevorzugte Gottes“ (Foto: Mahmoud Ibrahim Public Domain/ Library of Congress)

In seinem neuen Buch geht Toby Matthiesen der Frage nach, wie es zur Bildung von Sunniten und Schiiten kam und welche Gemeinsamkeiten es trotz der Spaltung zwischen ihnen gibt.

Interview von Tugrul von Mende

Die Geschichte der innermuslimischen Beziehungen ist komplex und kompliziert. Insbesondere die Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten. Woran liegt das? 

Toby Matthiesen: Gerade weil das Thema so komplex ist, habe ich mich entschieden, dieses lange Buch zu schreiben. Ich hatte meine Doktorarbeit bereits zu einem Unterthema geschrieben, nämlich den Schiiten am Golf und ihrer Politisierung und bin dafür weit gereist. Ich wurde auch oft im akademischen Rahmen gefragt: "Was steckt hinter dieser Politisierung? Was führt zu diesen Konflikten?" Für mich war es immer schwierig, alles kurz darzustellen. Ich habe viele Interviews zu dem Thema gegeben, aber es war immer ein bisschen unbefriedigend.  

Natürlich ist es klar, dass es Perioden gab, wie z.B. im frühen 20. Jahrhundert, in denen die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten eine weniger wichtige Rolle gespielt hat als danach oder davor. Es gibt Kontexte, wie etwa in Indonesien, wo viele Muslime noch vor einigen Jahrzehnten gar nicht wussten, was die beiden Kategorien Schiiten und Sunniten bedeuten. 

Anderseits gab es sehr viele frühere Bemühungen um Konfessionalisierung und man findet Anekdoten, die zeigen, dass sie in verschiedenen Perioden ein sehr wichtiger Faktor im Zentrum der muslimischen Welt waren. Daher habe ich mich entschieden, das Buch in vier Teilen zu schreiben, wobei jeder Teil eine gewisse Periode abdeckt und versucht zu erklären, was in dieser Zeit passiert ist.  

Cover von "The Caliph and the Imam" von Toby Mathiesen
Toby Matthiesen beschreibt in seinem Buch, wie die konfessionelle Ambiguität im Laufe der islamischen Geshichte langsam verschwindet. Die Grenzen zwischen Sunniten und Schiiten haben sich über die Jahrhunderte verfestigt. (Quelle: Oxford University Press, USA/UK)

Legitimität durch Religion und Konfession

Im ersten Teil geht es darum, wie sich zunächst die Rechtsschulen und die beiden großen Strömungen Sunniten und Schiiten herausgebildet haben. 

Ich schaue mir dabei vier Wendepunkte für diese Entwicklung genauer an: die frühen islamischen Reiche, die frühe Neuzeit mit ihren islamischen Großreichen (Osmanen, Safawiden, Mogule, Shaybani-Uzbeken und einige andere), die sich durch Religion und Konfession legitimiert haben und sich in Konflikten mit Nachbarreichen auch oft auf ihre konfessionelle Identität beriefen.

Außerdem schaue ich mir den modernen Staat an, unter anderem auch den Kolonialstaat und die Zeit seit der iranischen Revolution, und wie Staaten ihre Rivalitäten, z.B. zwischen Iran und Saudi-Arabien, konfessionell legitimiert haben. 

Während des Festes wurde auch eine Szene der Schlacht von Kerbela von 680 nachgespielt.
Beim schiitischen Aschura-Fest in Kerbela, südlich der Hauptstadt Bagdad im Irak, gedenken jedes Jahr hunderttausende Schiiten des Todes von Imam Hussein. Der Enkel des Propheten Mohammed war im Jahr 680 mit seinen Getreuen bei der Schlacht von Kerbela getötet worden. Die Schlacht markiert die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten. (Foto: Reuters/A. Dhiaa Al-Dee)

Ähnliche Prozesse wie in Europa

Die Entstehungszeit ist von entscheidender Bedeutung, da die muslimischen Reiche, Staaten und Bewegungen versucht haben, sich zu legitimieren, indem sie sich auf sie beriefen. Welche Periode finden Sie am wichtigsten?  

Matthiesen: Ich finde vor allem die Periode, die ich im zweiten und dritten Teil des Buches diskutiere, extrem wichtig, also die Zeit nach 1500. Es ist nicht allen bewusst, dass sich neue Dynastien wie z.B. die Safawiden so stark auf das Schiitentum berufen haben, obschon Iran bis dahin mehrheitlich sunnitisch war. 

Es gab in Indien auch Herrscher, lokale Fürsten, die die Safawiden imitieren wollten. Zeitgleich dazu gab es auch sunnitisch geprägte Herrscher in Indien, Afghanistan oder auch die Osmanen, die konfessionell ein breiteres Verständnis des Islam gefördert haben, aber sich dann doch in der Rivalität mit den Safawiden sehr stark sunnitisch legitimiert haben. 

Es ist eine Zeit, in der auch in Europa ähnliche Prozesse stattfinden. Daher gebrauche ich den Begriff "Konfessionalisierung“, der aus der deutschen Historikerdebatte stammt. Man kann diesen Begriff sicherlich kritisieren, aber es gibt starke Gemeinsamkeiten zwischen Europa und den islamisch geprägten Ländern. 

Sie haben sich gegenseitig beeinflusst. Das sehen wir etwa bei den Habsburgern, die sich im Kampf gegen die Osmanen stärker religiös legitimierten, und bei den Osmanen, die sich ebenfalls religiös legitimierten, in ihrem Fall als sunnitische Führer gegen die schiitischen Safawiden. 

Die verschiedenen Rivalitäten spitzten sich zu und führten zur stärkeren religiösen Identität der Territorien. Das Ganze mündet letztendlich in die Nationalstaaten. Im dritten Teil beschreibe ich den Einfluss des modernen Staates, besonders in der Form der Kolonialstaaten und wie sie die Muslime und den Islam neu organisiert haben, insbesondere auch indem sie die rechtlichen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten verschärft haben.  

Ein anderes Thema, das ich behandle, ist die Frage des Zusammenspiels von Nationalismus und Religion. In vielen Ländern ist dies dann auch implizit mit einer spezifischen Konfession verbunden. 

Referenz für sunnitische Gelehrte: Die Al Azhar Moschee in Kairo
Die Al Azhar Moschee in Kairo, eines der wichtigsten Zentren des sunnitischen Islam (Foto: picture-alliance/ZB)

Die konfessionelle Ambiguität verschwindet

Die Osmanen haben sich einerseits als sunnitisch identifiziert, anderseits hatten sie oft wenig Kontrolle über die gelebte Religion der breiten Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Konfessionelle Ambiguität konnte daher unter ihnen von Gruppen gelebt werden, die nicht dem sunnitischen Islam der hanafitischen Rechtsschule angehörten. Das erklärt, wieso z.B. die Aleviten in der Türkei und im post-osmanischen Raum überleben konnten.

Das Buch beschreibt einen Prozess, in dem diese konfessionelle Ambiguität langsam verschwindet. Die Grenzen zwischen beiden Konfessionen haben sich über die Jahrhunderte verfestigt. Es gab dabei ganz wichtige Wendepunkte, wie der moderne Staat, dem diese Ambiguität suspekt war. 

In vielen Ländern hat sich das Verhältnis zwischen den Konfessionen radikal verändert, unter dem Einfluss der Kolonialmächte und der Orientalisten, die gesagt haben nein, Sunniten müssen sich so verhalten und Schiiten so (ihnen waren z.B. gemeinsame Muharram-Prozessionen in Indien ein Dorn im Auge). 

Bei Volkszählungen in Britisch-Indien z.B. musste man dann über Jahrzehnte ankreuzen, zu welcher islamischen Konfession man gehörte. Durch solche Prozesse fand eine Polarisierung statt. Es gab zwar weiterhin gemischte Ehen, wie z.B. im Irak, aber die konfessionelle Gewalt der letzten Jahre hat solche Verbindungen viel schwieriger gemacht.

Kurzum, in vielen Kontexten ist die konfessionelle Ambiguität verloren gegangen und durch ein viel stärkeres konfessionelles Selbstverständnis und eine Abgrenzung gegenüber dem Anderen ersetzt worden.  

Sie benutzen Begriffe wie "Konfession“, aber lassen sich solche westlich geprägten Begriffe auf die Region übertragen oder ist das nicht problematisch?   

Matthiesen: Es geht mir vor allem darum, nicht den Begriff "Sekte“ zu verwenden. Das erkläre ich auch im Buch. Der Begriff Sekte stammt aus der Religionssoziologie, die durch das Christentum geprägt ist. 

Ich wurde immer wieder in den Universitäten gefragt: "Welcher Islam ist denn jetzt die Kirche und welcher ist die Sekte, oder was ist der katholische und was der protestantische Islam?“ Das führt einfach nicht weiter und man kann diese Frage nicht zu Ende beantworten.

Viele Leute haben dazu etwas geschrieben, nichts macht aber Sinn. Im Buch versuche ich die Geschichte des Islam neu zu schreiben und dafür innerislamische Begrifflichkeiten anstelle von negativ konnotierten Begriffen wie "Sekte“ oder "sectarianism“ zu benutzen. 

Ich spreche von den Branches of Islam und den verschiedenen Rechtsschulen, den Madhahib. Der Begriff der Konfession ist da ein weniger negativ geprägter Begriff und die Konfessionalisierung nun mal ein realer Prozess, den man vergleichend in den verschiedenen Religionen beobachten kann. 

Sie schreiben über das Zeitalter der "konfessionellen Ambiguität". Können Sie diese Ambiguität charakterisieren und wie manifestiert sie sich heute? 

Matthiesen: Dieser Begriff wurde schon vorher ab und zu verwendet, aber ich benutze ihn, um breitere Epochen und neue Orte zu beschreiben. Es geht um Zeiten sowie ganze Länder und Bewegungen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen.

Bewegungen wie die Sufis wollten sich oft nicht mit der einen oder anderen Seite identifizieren. Es waren einerseits Sufi-Bewegungen, die die offiziellen, von Juristen und Theologen festgelegten Grenzen zwischen Sunniten und Schiiten bewusst überschritten.

Andererseits gab es auch Sufi-Orden, die sehr stark an der Konfessionalisierung des Islam mitgewirkt haben. Die Safawiden zum Beispiel waren ein Sufi-Orden, und sie konvertierten den Iran zum Schiitentum. Die Naqshbandi Sufis waren an vielen Orten antischiitisch. Konfessionelle Ambiguität war auch dazu da, um Konflikten vorzubeugen.

Wissenschaft jenseits konfessioneller Grenzen

Sie schreiben: "Sunnitische, schiitische und ismailitische Gelehrte übermittelten Wissen und lernten voneinander, ohne sich auf konfessionelle Grenzen zu konzentrieren." Wie war dies möglich und warum konnte dies nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden? 

Matthiesen: Natürlich gab es jenseits der Polemik oder dem Feld der Scharia und den Debatten innerhalb der Rechtsschulen ganz andere Wissensfelder wie z.B. die arabische Sprache, Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften. Das waren Wissensfelder, in denen auf Arabisch, Persisch oder Türkisch publiziert wurde, ungeachtet konfessioneller Grenzen. Alle diese Wissenschaften haben sehr viel zum Weltwissen beigetragen. Da muss man aufpassen, dass man nicht eine konfessionelle Identität zurückprojiziert. 

Bei einem Text zur Sternkunde aus dem 13. oder 14. Jahrhundert sieht man nicht unbedingt, welcher Konfession der Autor angehörte. Es ging um die Sache und es gab einen Austausch zwischen den Gelehrten. Man hat voneinander gelernt. Man hat auch bei Vertretern der anderen Rechtsschulen gelernt und studiert. Die großen Pilgerzentren und Gelehrtenstädte waren alles multikonfessionelle Städte. Die konfessionellen Gemeinschaften waren keine durch Mauern voneinander getrennten und abgeschnittenen Welten.  

Iranische Sunniten bei der Koranlektüre
"Sunnitische, schiitische und ismailitische Gelehrte übermittelten Wissen und lernten voneinander, ohne sich auf konfessionelle Grenzen zu konzentrieren," schreibt Toby Matthiesen in "The Caliph and the Imam". Auf dem Bild sind iranische Sunniten bei der Koranlektüre zu sehen. (Foto: Fars)

Welche Rolle spielen Sunnitentum und Schiitentum heute im Vergleich zu früher? 

Matthiesen: Sie haben in den letzten Jahrzehnten eine starke Rolle gespielt und sicherlich einige der Konflikte, die aus dem Arabischen Frühling entstanden sind, noch verschlimmert. Ich verwende den Begriff "sectarianisation“, um einen hier einen aktiven Prozess zu bezeichnen.

An vielen Orten geht religiös legitimierte Gewalt von Regimen aus. Was wir jetzt sehen ist, dass diese Gewalt eher wieder zurückgeht und es eine Entspannung gibt wie z.B. im Irak oder durch die Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien.  

Der IS war ein extremes Beispiel für konfessionell geprägte Gewalt, sein Wüten führte zu einem fürchterlichen Höhepunkt, nach dem es so nicht weitergehen konnte. Momentan kann man eine Entspannung zwischen Sunniten und Schiiten feststellen. Vor ein paar Jahren gab es Kleriker, die die andere Konfession schlecht gemacht haben, momentan gibt es dies viel weniger.

Es ist ein Anzeichen der Politisierung der ganzen Frage, denn wenn gewisse Staaten die konfessionelle Zuspitzung nicht mehr brauchbar finden, dann gehen die Spannungen auch zurück. Saudi-Arabien hat seine ganze Staatsraison umgebaut und legitimiert sich nicht mehr primär durch den Wahhabismus. 

Diese Umstellung ist ein wichtiger Faktor. Die Saudis unterstützen auch antischiitische Salafisten nicht mehr in dem Maß, wie das noch vor zehn Jahren der Fall war. Es gibt Veränderungen und eine Annäherung beider Seiten.  

Inwiefern spielte die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten während des Arabischen Frühlings eine Rolle? 

Matthiesen: In keinem arabischen Land, auch in der Türkei und Iran nicht, gab es explizit konfessionalistische Slogans bei den Protesten. Die Menschen haben gegen Diktaturen und korrupte Regime protestiert. Aber die Regime haben natürlich jahrzehntelange Erfahrung darin, die Bevölkerung zu kontrollieren und die Protestbewegungen zu spalten.  

In der Region gibt es ein Wissen darum, wie man religiöse Unterschiede ausnutzen und auf die Ängste der jeweiligen Minderheiten setzen kann. In Syrien oder auch in Bahrain hat man das ganz stark gesehen. Sobald das Regime Gewalt angewendet hat, haben sich die Menschen auf ihre jeweilige konfessionelle Gemeinschaft zurückgezogen.   

Sie haben Ihre Schlussfolgerungen mit "Jeder Ort ist Kerbala" betitelt. Was meinen Sie damit? 

Matthiesen: Das ist ein berühmtes Zitat, das auch in der iranischen Revolution ein wichtiger Slogan war. Es symbolisiert die Politisierung des Schiitentums und spricht somit das Thema des ganzen Buches an, nämlich wie Religion und Politik zusammenspielen.  

Die Fragen stellte Tugrul von Mende.

© Qantara 2023

Toby Matthiesen, "The Caliph and the Imam: The Making of Sunnism and Shiism", Oxford University Press, UK/USA, 2023