Flirt mit dem Antisemitismus 

Rechtsextreme Politiker berufen sich gerne auf ihre Unterstützung für Israel als Beleg dafür, dass sie keine Antisemiten seien. Doch die israelische Regierung hat mit Viktor Orbán aus Ungarn mehr gemeinsam als mit den Juden in der Diaspora. Ein Kommentar von Ian Buruma  

Von Ian Buruma

Wenn Politiker und ihre Anhänger behaupten, der 1930 in Budapest als Sohn ungarischer Juden geborene US-Investor und Philanthrop George Soros, ziehe die Fäden der Weltpolitik, dann ist Antisemitismus nicht weit. Der antisemitische Charakter dieser Behauptung hat den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, den ehemaligen US-Präsidenten Trump und ihre Anhänger allerdings nicht davon abgehalten, sie zu verbreiten. 

Sowohl Orbán als auch Trump verweisen oft auf ihre Unterstützung für Israel als Beleg dafür, keine Antisemiten zu sein. "Kein Präsident hat mehr für Israel getan als ich“, rühmte sich Donald Trump im letzten Oktober. Orbán bezeichnete Israel und Ungarn als "Modelle erfolgreicher konservativer Gesellschaften“. Allerdings sagte er auch, die Ungarn wollten "kein ethnisch gemischtes Volk werden“ – eine Aussage, die eher an klassischen Rassismus erinnert als an Sympathie für das jüdische Volk. 

Heute ist es in der Politik längst kein Widerspruch mehr, pro-israelisch und gleichzeitig antisemitisch zu sein. Tatsächlich haben der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und die noch radikaleren Mitglieder seines Kabinetts viel mit den rechtsnationalen Kräften in Europa und den USA gemeinsam, mit denen sie sich verbündet haben. 

Wie Orbán sind auch die israelischen Rechtsextremisten Ethno-Nationalisten. Israels Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, betrachtet nationale Identität in ethnischen Kategorien und hat etwa die Ausweisung palästinensisch-israelischer Bürger gefordert, die der "Illoyalität“ gegenüber dem jüdischen Staat verdächtigt werden. Sein größtes Vorbild ist der radikale Rabbiner Meir Kahane, der das Zusammenleben mit Palästinensern als "Koexistenz mit Krebs“ bezeichnete.

Israels Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Givr, in dunklem Anzug und weißer Kippa während einer Sitzung in der israelischen Knesset (Foto: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance)
Bekennender Ethno-Nationalist: Israels Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, betrachtet nationale Identität in ethnischen Kategorien und hat die Ausweisung palästinensisch-israelischer Bürger gefordert, die der "Illoyalität“ gegenüber dem jüdischen Staat verdächtigt werden. Sein größtes Vorbild ist der radikale Rabbiner Meir Kahane, der das Zusammenleben mit Palästinensern als "Koexistenz mit Krebs“ bezeichnete.

Juden in der Diaspora sind besorgt

Ist es da verwunderlich, dass sich liberale Juden weltweit zunehmend von der derzeitigen Führung Israels entfremden? Der Kongressabgeordnete der Demokraten Jake Auchincloss in den USA sagte kürzlich, seine jüdischen Wähler seien zwar in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung, alle teilten aber die Sorge, dass Israel auf eine "illiberale Demokratie“ zusteuere. Sogar die streng pro-zionistische, in New York basierte Anti-Diffamation League verurteilte den "jüdischen Rassismus“ der israelischen Regierung. 

Einige dieser Spannungen sind sicherlich auch auf politische Differenzen zurückzuführen. Die israelische Regierung lehnt die liberalen Ansichten vieler Juden in der Diaspora ab. Aber die wachsende Kluft ist auch Ausdruck einer tiefergehenden Veränderung. 

In der europäischen Geschichte ging der ethnische Nationalismus Hand in Hand mit dem Antisemitismus und trug in gewisser Weise zu dessen Ausformung bei. So bezeichnete der vom glühenden britischen Antisemiten Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) beeinflusste letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. die USA und Großbritannien als "von Juden unterwandert“. Im Gegensatz zu diesen Ländern, die nach Ansicht Wilhelms vom Geld regiert würden und jedem die Staatsbürgerschaft verliehen, der zu zahlen bereit war, seien alle "wahren Deutschen" in ihrer Heimaterde verwurzelt. Adolf Hitler teilte diese Auffassung. 

Für viele europäische und amerikanische Antisemiten galten Juden gewissermaßen als die geborenen Bolschewisten. Das Misstrauen gegenüber Juden beschränkte sich jedoch nicht auf die politische Rechte. Joseph Stalin war zwar kein Anhänger der rechten Blut-und-Boden-Ideologie, betrachtete Juden aber als "wurzellose Kosmopoliten“, deren Loyalität stets in Zweifel stehe.

Antisemiten neigten dazu, den jüdischen Kosmopolitismus mit dem multiethnischen Charakter der amerikanischen Gesellschaft in Verbindung zu bringen. Dieses Vorurteil verband sich häufig mit einem antikapitalischen Reflex, da das Streben nach Reichtum als charakteristisch sowohl für Juden als auch für Amerikaner angesehen wurde.

Donald Trump während seiner Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten an der Klagemauer in Jerusalem (Foto: Getty Images/AFP/R. Zvulun)
"Kein Präsident hat mehr für Israel getan als ich“: Sowohl Orbán als auch Trump verweisen oft auf ihre Unterstützung für Israel als Beweis dafür, keine Antisemiten zu sein. Heute ist es in der Politik längst kein Widerspruch mehr, pro-israelisch und gleichzeitig antisemitisch zu sein.



Eine kürzlich im Guardian veröffentlichte Karikatur ist ein perfektes Beispiel für linke antisemitische Vorurteile: Die Karikatur zeigt Richard Sharp, den scheidenden BBC -Vorsitzenden und ehemaligen Goldman-Sachs-Banker, als Plutokraten mit dicken Lippen und großer Nase, der eine Schachtel mit einem seine schleimigen Tentakel ausstreckenden Tintenfisch und einer Puppe des britischen Premierministers Rishi Sunak trägt. Die Botschaft ist unmissverständlich: Der Jude Sharp kontrolliert Sunak hinter den Kulissen. 

Angst vor globalistischen Eliten nährt den Nationalismus 

Der radikale Populismus, vor allem der extremen Rechten, aber auch der extremen Linken, ist zum Teil eine Reaktion auf die Globalisierung und die Macht der Banken, der multinationalen Konzerne, der supranationalen Institutionen und den unbegrenzten Kapitalfluss. Die verbreitete Angst, von diesen globalen Strömungen mitgerissen zu werden, hat eine neue Sehnsucht nach Politikern entfacht, die versprechen, sie würden die Macht an die "Einheimischen“ zurückzugeben und die korrupten globalistischen Eliten beseitigen. 

Vor nicht allzu langer Zeit wurden diese globalistischen Eliten von radikalen populistischen Politikern in der Regel als Amerikaner oder Juden identifiziert. Unter dem Einfluss von Trump und seinen Gesinnungsgenossen sind die USA allerdings selbst zu einem Leuchtturm für Reaktionäre aus aller Welt geworden – einschließlich der derzeitigen politischen Führungsriege in Israel. 

Obwohl die frühen Zionisten Israel zur Heimat der Juden machen wollten, sollte es nie ausschließlich ein Land für Juden sein. Die Juden, die dort ankamen und es zu ihrer Heimat machten, stammten ursprünglich von woanders. Nur die Orthodoxen glaubten, es sei ihnen von Gott gegeben. Meir Kahane, der auch von dieser Idee überzeugt war, wurde in Brooklyn, New York, geboren (und 1990 in Manhattan ermordet). Seine Ansichten werden von vielen evangelikalen Christen in den USA geteilt, die glauben, dass die Juden dem Untergang geweiht sind, wenn sie nicht vor dem Jüngsten Gericht zum Christentum konvertieren.

 

— Yishai Fleisher يشاي ישי פליישר (@YishaiFleisher) August 4, 2022

 

 

Auf der diesjährigen Conservative Political Action Conference (CPAC) in Dallas, Texas, USA, begegnete Orbán, der als einer der Hauptredner auftrat, seinem Fan und Rednerkollegen Yishai Fleisher, dem internationalen Sprecher der jüdischen Siedler in Hebron im Westjordanland. Nachdem Fleisher ein Selfie mit Orbán getwittert hatte, wurde er auf den mutmaßlichen Antisemitismus des ungarischen Ministerpräsidenten angesprochen, worauf er antwortete, dieser sei ihm egal.  

Er sei kein "Diaspora-Jude“, sagte Fleisher, sondern ein Israeli. Er sehe Orbán als einen "Kollegen in der Politik" und Verbündeten im Kampf gegen eine "globalistische Agenda, die offene Grenzen erzwingen und nationale Identitäten auslöschen will“. Treffender könnte man die wachsende Kluft zwischen Israel und der jüdischen Diaspora nicht beschreiben. 

1898 traf Theodor Herzl, der Hauptbegründer des politischen Zionismus, Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem und hoffte, ihn für die Errichtung einer "Heimstätte für das jüdische Volkes“ zu gewinnen. Der Kaiser saß auf seinem Schimmel, während Herzl stand und war nicht interessiert. Würde er heute noch leben und am selben Ort stehen, wäre er vielleicht zufrieden mit dem, was er sähe. 

Ian Buruma

© Project Syndicate 2023



Aus dem Englischen übersetzt von Harald Eckhoff
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Ian Buruma ist der Autor zahlreicher Bücher, darunter "Die Grenzen der Toleranz: Der Mord an Theo Van Gogh, "45: Die Welt am Wendepunkt, "Tokyo Romance: A Memoir, und zuletzt "The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit(Penguin, 2020).