Kartographie einer verborgenen Welt

"Withered Flowers" ist eine Sammlung kraftvoller Kurzgeschichten aus den Anfängen einer ebenso beeindruckenden wie ungewöhnlichen literarischen Laufbahn. Die Geschichten lassen uns in unerschrockenen Sprachbildern teilhaben am täglichen Leben marginalisierter Menschen im Südsudan. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Dieser Kurzgeschichtenband ist bereits Gitanos zweiter, der auf Englisch erscheint. Beide Bände wurden dort veröffentlicht, wo Gitano heute lebt: in Dschuba, der Hauptstadt des Südsudan. Gitano ist zwar Südsudanesin, aber ihre literarische Laufbahn begann sie als Studentin an der Universität von Khartum, der Hauptstadt der Republik Sudan. Ihre Eltern flohen Ende der 1960er Jahre während des Bürgerkriegs aus dem Süden in den Norden des Landes. Die Autorin wurde 1979 in Khartum geboren. Sie besuchte später die Universität und begann dort auch ihre Laufbahn. Nach der Teilung des Landes zog sie 2012 in den Südsudan.

Die Geschichten aus Withered Flowers (dt. "Verwelkte Blumen") entstanden zwischen 1998 und 2002, als Gitano noch Studentin der Anglistik war. Neben Englisch bewegte sie sich zwischen drei arabischen Sprachvarianten (Sudanesisch, Dschubisch und klassisches Hocharabisch). Ihr Frühwerk zeichnet sich durch lebhafte Wortspiele, unerschütterliches Mitgefühl und eine profunde Erzählkunst aus. Diese Gabe schreibt die Autorin den Frauen in ihrer Familie zu. Ihnen widmet sie auch diesen Band.

Auch die Übersetzung wird wie das arabische Original von hinten nach vorne gelesen. Die letzte Geschichte der Sammlung, "An Island the Size of a Papaya Fruit", ist eines der ersten Werke der Autorin. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine Großmutter, die als außerordentlich hässlich und sehr kräftig beschrieben wird, ähnlich wie die Trolle in Märchen.

Die junge Erzählerin erzählt liebevoll von ihrer Großmutter, lässt uns aber gleichzeitig an pikanten Details teilhaben. "Die schlaffen Brüste der Großmutter klingen wie Apfelmus, wenn sie gegen ihren Bauch klatschen", so heißt es.

Die Großmutter spricht über ihren Mann, der von den Engländern hingerichtet wurde. Der Großvater, sagt sie, habe ohne es zu wissen den Behörden seinen eigenen Hinrichtungsbefehl zugestellt. In ihrer Erzählung wirkt die Anekdote ebenso irritierend komisch wie tragisch und verstörend. Die Kurzgeschichte wurde mit dem Professor-Ali-El-Mek-Award ausgezeichnet.

Formenwechsel durch Stile und Charaktere

Buchcover Stella Gitano: "Withered Flowers"; Verlag: Rafiki for Printing and Publishing, Juba
The short stories in "Withered Flowers" follow in the powerfully empathetic tradition of Muhammad Zafzaf and Yusuf Idris, with a vibrant descriptive language that is entirely Gitanoʹs own

Die übrigen sieben Geschichten dieser kleinen Sammlung bewegen sich durch Stilelemente und Charaktere, als wolle die junge Gitano die Möglichkeiten literarischer Formen ausprobieren. Vom Hyperrealismus geht es über Fantasy bis zum Volksmärchen, wobei die meisten Werke irgendwo dazwischen angeordnet sind.

Die Protagonisten dieser Geschichten sind oft dazu bestimmt, zu entkommen, neu anzufangen oder ihr Glück zu suchen. Doch nur in der Titelgeschichte "Withered Flowers" erlebt eine Figur dauerhafte Freude – trotz ihrer unheilbaren Erkrankung.

Die erste Geschichte entstand im Sommer 2002. Sie ist die düsterste der Sammlung. Ebenso wie in der Geschichte über die hässliche Großmutter ist sie bewegend und liebevoll.

Den Auftakt bilden Gliederungspunkte zu Einstellung, Zeitraum und Personen. Die namenlosen Charaktere in "It's Getting Very Hot" werden uns lediglich als "unglückliche Kreaturen" vorgestellt.

Der erste Teil der Geschichte wird in der zweiten Person erzählt. Er handelt von einem sterbenskranken Mann, der an Tuberkulose leidet. Mittlerweile hat er sich wundgelegen, was aber "bislang unbemerkt blieb".

Ans Bett gefesselt beobachtet er das Leben um sich herum. Er sagt zu sich selbst: "Dass du nichts verpasst, was auf der Straße passiert, liegt im Grunde genommen daran, dass du auf der Straße lebst."

Haus und Heim zusammenhalten

Während der Mann so unbeweglich ist, dass er fast zu einem Ding mutiert, ist seine Frau ständig bemüht, Haus und Heim zusammenzuhalten. Sie wird in der überzogenen aber überzeugenden Metapher beschrieben, die für Gitanos Werk so kennzeichnend ist: "Sie geht zu dir hinüber, ihr dünner Körper klappert in ihrem Kleid herum wie ein Löffel in einem Glas. Du kannst ihre Adern sehen, die sich zu feinen Rinnsalen um ihren Körper herum verästeln."

Als liefen die Dinge für die kleine Familie nicht schon schlecht genug, kommen eines Tages Polizisten und durchsuchen die Hütte. Sie finden das im Boden vergrabene schwarz Gebraute, gießen es weg und verhaften die Frau. In dem Moment, in dem sie verschwindet, herrscht gespannte Stille zwischen den beiden Erwachsenen "Du weißt, dass sie etwas sagen wollte, aber...."

Die minderjährigen Kinder kehren alsbald in die Hütte zurück und müssen sich nun um ihren namenlosen Vater kümmern. Wer denkt, dass es nicht schlimmer kommen könnte, wird eines Besseren belehrt: Die Hütte wird von den städtischen Behörden abgerissen. Der Vater bleibt obdachlos und hilflos zurück. Als es regnet, bleibt seinen Kindern nichts weiter übrig, als ein Laken über ihn zu halten.

Der zweite Teil von "It's Getting Very Hot" nimmt die Perspektive der Frau ein. Zum ersten Mal hören wir Namen. Sie dringen aus dem Stimmengewirr der Mitgefangenen zu uns: "So viele Namen, die sich in ihrem Gedächtnis einnisten, so wie sie aus dem Mund der Wachen, die sie gerufen haben, entstanden sind – oft falsch ausgesprochen."

Verloren und gefunden

Das sind, wie wir annehmen, südsudanesische Frauen, deren Namen ihre nordsudanesischen Gefängniswärter nicht richtig aussprechen können. Als unsere namenlose Protagonistin aus dem Gefängnis entlassen wird, sucht sie verzweifelt nach ihrem Mann und ihren Kindern. Nach vielen Mühen gelingt und misslingt ihr dies am Ende. Überall in Withered Flowers stoßen wir auf Charaktere, die sich verlieren und wieder finden.

In "Maps of Unknown Worlds" bestreiten zwei junge Geschwister jeden Tag ihren Lebensunterhalt als Taschendiebe. Die Schwester ist oft gewalttätig gegenüber dem verträumten jüngeren Bruder.  Zu Anfang der Geschichte wird er durch einen Hieb aus dem Schlaf gerissen und "sieht die Lache, die er als Bettnässer wie eine Landkarte hinterlassen hat. Eines Tages, so träumt er, wird er dieses Land besuchen."

Die Schwester ist von der Taille abwärts gelähmt. Der Bruder muss sie auf ihren täglichen Diebestouren tragen.  Nach einem Streit lässt der Bruder seine Schwester zurück und schließt sich anderen Bettlern an. Später kehrt er zu ihr zurück und wird erneut Zielscheibe ihres Grolls. 

Gitanos zweite Sammlung, "The Return", erschien ein Jahrzehnt nach ihrem ersten Band und handelt von Familien, die in den Südsudan zurückkehren. Viele Bücher hat Gitano noch nicht geschrieben und sie lebt weit weg von den Metropolen der arabischen Literatur, aber ihre Stimme ist ein einzigartiger und kraftvoller Teil der literarischen Landschaft.

Es bleibt zu hoffen, dass sie weiter in der Sprache schreibt, der sie im Gespräch mit der New York Times im Jahr 2015 ihre Liebe erklärte: "Ich liebe die arabische Sprache. Es geht mir damit wie allen Schriftstellern, die nicht in ihrer eigenen Sprache schreiben."

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2018

Aus dem Englischen von Peter Lammers