Marokko - Migranten als "Spielball" politischer Machtspiele

Marokko nutzt die Abhängigkeit Spaniens und der EU im Kampf gegen illegale Flüchtlingsströme für seine geopolitischen Interessen. Madrids frappanter Kurswechsel in einer jahrzehntelangen Streitfrage wie auch ein jüngstes Regierungstreffen zeugen davon.

Rabat/Madrid. Vorrangig ging es am vergangenen Donnerstag beim Regierungstreffen zwischen Spanien und Marokko in Rabat vor allem um wirtschaftliche Beziehungen, Energieversorgung und die gemeinsame Bekämpfung illegaler Migration. Dennoch stellten beide Länder bewusst ihr "Bekenntnis zum Schutz und zur Gewährleistung der Menschenrechte" als wesentliche Grundlage für das demokratische Zusammenleben und der bilateralen Zusammenarbeit in den Vordergrund ihrer Abschlusserklärung.

Kein Wunder: Erst im November wurden Spanien und Marokko vom UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR explizit aufgefordert, der Sicherheit von Migranten und Geflüchteten oberste Priorität zu geben. Beide Länder sollten übermäßige Gewaltanwendung bei Grenzkontrollen unterlassen und die Menschenrechte achten, so die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen.

Hintergrund war das brutale Vorgehen marokkanischer, aber auch spanischer Sicherheitskräfte im vergangenen Juni gegen vor allem sudanesische Flüchtlinge. Beim Versuch, den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla zu überwinden, hatten 37 von ihnen ihr Leben verloren. Organisationen wie Amnesty International werfen beiden Ländern systematische Menschenrechtsverletzungen an der sensiblen Außengrenze der Europäischen Union vor.

Spanien und Marokko trennen an der Straße von Gibraltar gerade einmal 15 Kilometer. Für viele Marokkaner und Flüchtlinge aus ganz Afrika ist Spaniens nahe Südküste das Eingangstor nach Europa. In den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla auf der afrikanischen Seite ist es sogar nur ein einziger Grenzzaun, der Menschen in Marokko von Europa trennt. An kaum einem Ort in der EU ist der Migrationsdruck derart hoch wie hier.

Amnesty International wirft dabei vor allem Marokko vor, Asylsuchende und Flüchtlinge immer wieder für geopolitische Ziele zu missbrauchen. "Marokko spielt mit Menschenleben. Das Land darf Menschen, darunter auch ihre eigenen BürgerInnen, nicht für politische Spiele instrumentalisieren", kritisierte Virginia Alvarez von Amnesty International Spanien. Damit bezog sich die Sprecherin konkret auf die Vorkommnisse im Mai 2021, als Marokko ohne Vorankündigung die Kontrollen zu den EU-Außengrenzen in Melilla und teilweise auch in Ceuta aussetzte. An die 10.000 Migranten erreichten teilweise schwimmend die spanischen Nordafrika-Exklaven.

Unter den Flüchtlingen befanden sich 2.000 unbegleitete Kinder. Es kam zu chaotischen Situationen, mehrere Menschen sollen ertrunken sein. Die spanischen Behörden waren vollkommen überfordert. Monatelange wusste man nicht, was man vor allem die unbegleiteten Kindern machen sollte. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass Marokko den Migrationsdruck an Spaniens sensiblen Nordafrika-Grenzen nutzte, um politische Ziele zu verfolgen.

In diesem Fall war der Auslöser, die Grenzkontrollen überraschend auszusetzen, die Verärgerung Rabats darüber, dass der Führer der Polisario-Befreiungsbewegung der Westsahara, Brahim Galli, in einem spanischen Krankenhaus zur Behandlung einer schweren Erkrankung aufgenommen worden war. Zwischen Spanien und Marokko kommt es immer wieder zu Streitigkeiten mit Blick auf die Westsahara.

Das rohstoffreiche Gebiet im Süden Marokkos war bis 1975 spanische Kolonie. Nach dem Abzug der Spanier besetzten die Marokkaner das Gebiet. Wie die Europäische Union und die Vereinten Nationen erkannte bisher auch Madrid den Anspruch Marokkos auf die Region nicht an.

Nach einer langen Zeit laxer Grenzkontrollen knickte die spanische Regierung im März 2022 allerdings ein. Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez vollzog eine 180-Grad Kehrtwende in der Westsahara-Politik und erklärte, Madrid werde entgegen der Position der Vereinten Nationen fortan die marokkanische Lösung für die ehemalige Kolonie unterstützen - nämlich die eines Autonomiestatus als marokkanische Region.

Nicht nur die Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara, Polisario, war über die neue Position Madrids empört. Sogar Sanchez' linker Koalitionspartner Unidas Podemos ist gegen den Positionswechsel, weshalb vergangene Woche kein einziger Podemos-Minister mit nach Rabat flog.

Zu Recht muss sich Ministerpräsident Sanchez auch von der konservativen Opposition die Kritik gefallen lassen, vor der Erpressungspolitik Rabat einzuknicken. Das Problem: Marokko ist nach Großbritannien und den USA Spaniens drittgrößter Handelspartner außerhalb der EU und die geografische Nähe verkompliziert die traditionell schwierige Beziehung nur noch.

Vor allem aber hängt Spanien bei der Bekämpfung der illegalen Flüchtlingsströme zu sehr von Marokko ab. Das zeigen auch die nackten Zahlen: Mit dem Entgegenkommen Spaniens im Westsahara-Konflikt begann Marokko wieder, seine Grenzen zur EU zu kontrollieren. Seitdem reisten in den vergangenen zehn Monaten von Marokko aus 31 Prozent weniger Migranten illegal nach Spanien ein.

Spaniens Zusammenarbeit mit Marokko ist auch für die Bekämpfung islamistischer Terrorzellen von großer Wichtigkeit. Das zeigten zuletzt die islamistischen Attentate vor zwei Wochen im südspanischen Algeciras, wo ein marokkanischer Migrant mit illegalem Aufenthaltsstatus in zwei Kirchen einen Kirchenküster aus "religiösen Motiven" mit einer Machete tötete sowie einen Pfarrer und drei Gottesdienstbesucher teils schwer verletzte. (KNA)