Die verlorenen Kinder von Ceuta

Hunderte Minderjährige sitzen in der spanischen Exklave fest. Sie können weder zurück nach Marokko noch weiterreisen nach Europa. Viele verstecken sich aus Misstrauen gegenüber der Polizei. Aus Madrid informiert Karin Janker

Von Karin Janker

Sie wollten nach Europa, um eine Zukunft zu haben, doch nun sitzen sie fest in einer Situation ohne Ausweg. Hunderte Kinder sind in der spanischen Exklave Ceuta gestrandet, können im Moment weder weiter nach Europa noch zurück nach Marokko. Die lokalen Behörden sind mit ihrer Unterbringung überfordert.

Während die meisten der volljährigen Migranten in den vergangenen Tagen bereits wieder nach Marokko zurückgeschickt wurden, ist eine solche Eil-Abschiebung im Falle von unbegleiteten Minderjährigen nicht erlaubt. Auch für Erwachsene ist sie mindestens umstritten. So befänden sich nun fast 1000 Kinder und Jugendliche im Limbus, einer Art Vorhölle, ihr weiteres Schicksal sei völlig unklar, schreibt die Onlinezeitung El Español.

Weder die spanische Regierung noch vor Ort tätige Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz können derzeit sagen, wann für diese Kinder und Jugendlichen eine umfassende Lösung gefunden wird und welche das sein könnte. Angekommen sind die jungen Menschen Anfang der vergangenen Woche zusammen mit Tausenden anderer Migranten, die die Gelegenheit der geöffneten Grenze Marokkos in Richtung Ceuta nutzten, um auf spanischen Boden zu gelangen. Sie durchschwammen einen Streifen Mittelmeer und kletterten auf der anderen Seite des mehrfach befestigten Grenzzauns mit nichts als der Kleidung, die sie am Körper trugen, an den Strand.

Ein Taucher der spanischen Guardia Civil rettet am 18. Mai 2021 ein Baby aus dem Wasser. (Foto: Guardia Civil/AP Photo/picture alliance )
Mit diesem Bild wurde Taucher Juan Francisco Valle über Nacht zum Helden. Die Menschen, die nach Ceuta geschwommen sind, hofften auf eine noch so winzige Chance. Doch kaum jemand von ihnen wird Europa jemals betreten. Nach Kritik aus Spanien an der Instrumentalisierung der Migranten hat Marokko angekündigt, sich stärker um die Rücknahme unbegleiteter marokkanischer Kinder zu bemühen, die sich ohne Papiere in der EU aufhalten.

Ein zynisches Spiel

Beobachter interpretierten die Grenzöffnung als einen Versuch Marokkos, Spanien wegen des schwelenden Konflikts um das Gebiet Westsahara unter Druck zu setzen. Die Kinder, die teilweise offenbar Falschnachrichten im Internet gefolgt waren, sind nun die Opfer dieser Form von Politik. Für sie gibt es zumindest mittelfristig zwei Möglichkeiten: Entweder sie können zu ihren Familien zurückgeschickt werden - doch dafür müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein - oder aber die Stadt Ceuta ist weiterhin für ihre Unterbringung und Versorgung zuständig. Unter Hochdruck arbeiten die spanischen und die marokkanischen Behörden derzeit daran, all jene Kinder zu ihren Familien zurückzuschicken, die zurückkehren möchten.

Es gilt, keine Zeit zu verlieren, denn die Bedingungen, unter denen die Kinder in Ceuta untergebracht wurden, sind Beobachtern zufolge schlecht. "Die Auffanglager in Ceuta sind völlig überlastet, deshalb wurden die Kinder zunächst in Gebäuden untergebracht, die dafür nicht geeignet sind", sagt Catalina Perazzo von der Hilfsorganisation Save the Children, die mit fünf Helfern vor Ort ist. In den ersten Tagen kursierten Fotos von alten Lagerhallen, in denen Kinder und Jugendliche in Eisenregalen schliefen. Ihre Notdurft müssten sie dazwischen auf dem blanken Boden verrichten, berichteten Helfer vor Ort der Zeitung El País. Inzwischen wurden offenbar Feldbetten aufgestellt, und Nachbarn spendeten ausgemusterte Kleidung, Decken und Essen.

Viele verstecken sich aus Angst vor der Polizei

Ceutas Behörden hätten bereits Tausende Anrufe besorgter Eltern entgegengenommen, die ihre Kinder suchten. Die Lokalzeitung Faro de Ceuta veröffentlicht auf ihrer Webseite Fotos vermisster Kinder, die ihr von deren Familien zugeschickt wurden, damit die Bevölkerung Ceutas bei der Suche nach den Kindern helfe. Werden Kinder und Eltern von den Behörden gefunden, so könne eine Familienzusammenführung eingeleitet werden, sagt Perazzo von Save the Children. Doch bis dies in Hunderten Fällen gelinge, könnten Monate vergehen, in denen die Kinder in Ceuta versorgt werden müssten.

 

Und nicht alle angekommenen Minderjährigen haben sich bei den spanischen Behörden gemeldet. Viele versteckten sich aus Angst vor der Polizei oder auch vor den Zuständen in den Auffanglagern, sagt Perazzo, und schliefen lieber auf der Straße. Aktuelle Bilder aus der 84 000-Einwohner-Stadt Ceuta zeigen kleine Gruppen von Jugendlichen, die in Parks oder in den Hügeln in der Stadt ihre Lager aufgeschlagen haben. Sie schlafen auf zerrissenen Pappkartons und essen das, was Nachbarn oder Hilfsorganisationen ihnen schenken.

Einige Jugendliche hätten sich wohl vorgenommen, doch noch auf irgendeinem Weg aufs europäische Festland zu kommen. Zu El País sagte der 15-jährige Bilal, dass er seinen Eltern erzählt habe, er sei in einem Auffanglager, damit sie sich keine Sorgen machten. "Meine Mutter möchte, dass ich zurückkomme, aber mein Vater sagt, dass ich bleiben soll, damit ich einmal ein besseres Leben habe."

Abschieben darf der spanische Staat die unbegleiteten Minderjährigen nicht. "Diejenigen, die nicht zur ihren Familien zurückgeschickt werden können, müssen von Spanien oder Europa aufgenommen werden", so Perazzo.

Bislang haben sich die spanischen Regionen allerdings lediglich auf die Aufnahme von 200 Kindern und Jugendlichen geeinigt, die schon zuvor in Ceuta untergebracht gewesen waren. Diese werden nun auf die einzelnen Regionen verteilt. So soll zumindest Platz geschaffen werden in den Auffanglagern, in denen die Bedingungen etwas besser sind als in jenen Hallen, die die spanische Presse bereits als "Lagerhallen der Schande" bezeichnet hat.

Karin Janker

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