Krisenmanagement in der arabischen Welt 

British-Egyptian Alaa Abdel Fattah, one of the leading youth leaders during the 2011 Arab Spring, started a hunger strike in prison on 2 April 2022. As COP27 began in Sharm El-Sheikh, Fattah announced he would stop drinking water. His aim: to highlight the plight of thousands of people – including human rights defenders, journalists, students, opposition politicians and peaceful protesters – currently languishing in Egypt’s jails.
British-Egyptian Alaa Abdel Fattah, one of the leading youth leaders during the 2011 Arab Spring, started a hunger strike in prison on 2 April 2022. As COP27 began in Sharm El-Sheikh, Fattah announced he would stop drinking water. His aim: to highlight the plight of thousands of people – including human rights defenders, journalists, students, opposition politicians and peaceful protesters – currently languishing in Egypt’s jails.

Die COP 27 in Ägypten und die WM in Katar lenken den Blick auf den Nahen Osten und Nordafrika. Beim Schutz der Bürgerrechte schneiden die Staaten der Region schlecht ab. Darunter leidet auch ihre Fähigkeit, komplexe Krisen wie den Klimawandel oder die Corona-Pandemie zu bewältigen. Von Jan Völkel 

Von Jan Voelkel

Komplexe Krisen gelten als "systemische Risiken“, die das Fundament gesellschaftlicher Systeme bedrohen, grenzüberschreitend und unvorhersehbar sind und beim Erreichen eines gewissen Kipppunkts katastrophale Folgen nach sich ziehen können. Die Corona-Pandemie ist dafür ein perfektes Beispiel: Sie hat lebenswichtige Systeme und Bereiche wie die öffentliche Gesundheit, wirtschaftliches Handeln, Bildung und sogar zwischenmenschliche Beziehungen bedroht.

Auch der Klimawandel droht verheerende Auswirkungen auf verschiedene Systeme zu haben – von der biologischen Vielfalt und der Landwirtschaft über die medizinische Versorgung bis hin zur Stadtplanung – und gefährdet so die Existenz von Gesellschaften und das Überleben der Menschheit. Laut einer aktuellen Studie von Carnegie Endowment gehören der Nahe Osten und Nordafrika zu den Regionen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind.  

Ob solche systemischen Risiken bewältigt werden können, hängt hauptsächlich von zwei Variablen ab: der Führung, das heißt, dem Kompetenzgrad und den Governance-Fähigkeiten von Regierungen, und den sozioökonomischen Ressourcen, die eine Gesellschaft in die Krisenprävention und das Krisenmanagement investieren kann.

Weltkarte mit Index der internationalen Anstrengungen gegen den Klimawandel (Quelle: DW)
Wer macht Fortschritte beim Kampf gegen den Klimawandel? Die Erderwärmung droht verheerende Auswirkungen auf verschiedene Systeme zu haben – von der biologischen Vielfalt und der Landwirtschaft über die medizinische Versorgung bis hin zur Stadtplanung – und gefährdet so die Existenz von Gesellschaften und das Überleben der Menschheit. Laut einer aktuellen Studie von Carnegie Endowment gehören der Nahe Osten und Nordafrika zu den Regionen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind.  

Der Transformationsindex (BTI) der Bertelsmann Stiftung mit seinen beiden komplementären Unterkategorien "Status-Index“ und "Governance-Index“ misst diese beiden Variablen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Der Governance-Index beschreibt, wie Regierungen agiert haben und wie funktionsfähig sie sind; der Status-Index zeigt wiederum, wie stark die politische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes ausgeprägt ist. Idealerweise handelt es sich hierbei um eine soziale Marktwirtschaft, eingebettet in ein demokratisches, inklusives Gemeinwesen. 

Schwindendes öffentliches Vertrauen 

Bei beiden Kriterien schneiden die meisten arabischen Länder eher schlecht ab. Mit der bemerkenswerten Ausnahme der Vereinigten Arabischen Emirate, Katars und, wenn auch in geringerem Ausmaß, Marokkos, weisen alle übrigen 16 Regierungen der Region erhebliche Defizite in ihrer "Steuerungsfähigkeit“ auf.

Soll heißen: All diesen Staaten fehlt es laut des BTI an der Fähigkeit, die richtigen Prioritäten zu setzen, politische Entscheidungen umzusetzen und aus früheren Fehlern oder mittels externer Beratung zu lernen.

Dabei ist entschiedenes und durchsetzungsfähiges Handeln eigentlich der Schlüssel für Regierungen, um das Vertrauen ihrer Bürger zu gewinnen, insbesondere wenn es an demokratischer Legitimität mangelt. Doch selbst die Türkei rangiert bei diesem entscheidenden Kriterium in der jüngsten Ausgabe des BTI unter dem weltweiten Durchschnitt

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei anderen Indikatoren für vertrauenswürdige Regierungsführung. Auch bei grundlegenden BTI-Kriterien wie "Ressourceneffizienz“ oder "internationaler Zusammenarbeit“ liegen die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens im Schnitt unter dem globalen Durchschnitt. 

Wie sollen Bürgerinnen und Bürger ihren Regierungen unter diesen schwierigen Umständen vertrauen, wenn systemische Risiken wie der Klimawandel oder Covid-19 außergewöhnliche und oft kostenintensive Maßnahmen erfordern? 

 

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Die Bürger sind den Krisen hilflos ausgeliefert

Die rohstoffreichen öl- und gasexportierenden Länder in der Region können diese Schwächen bis zu einem gewissen Grad durch hohe Ausgaben für die öffentliche Gesundheit und für Schutzmaßnahmen gegen Hitze und Dürre ausgleichen. Weniger wohlhabende oder von Konflikten geschüttelte Länder jedoch können sich das kaum leisten.

Ihre Bauern werden mit vertrockneten Äckern allein gelassen, ihren Kranken werden in schlecht ausgestatteten Krankenhäusern lebenswichtige Medikamente vorenthalten und ihre Armen sind der galoppierenden Inflation hilflos ausgeliefert. 

Arbeiten Regierungen und Gesellschaften in großen Krisen nicht zusammen, dann werden die Aussichten auf die Bewältigung solcher Herausforderungen noch schlechter. Covid-19, der Klimawandel oder andere natürliche sowie vom Menschen verursachte Katastrophen sind Herausforderungen, auf die die meisten Regierungen und Gesellschaften im Nahen Osten und in Nordafrika nur unzureichend vorbereitet sind. Der kollabierende Libanon, einst die schillernde Ausnahme von den gängigen politischen und wirtschaftlichen Verkrustungen in der Region, ist mittlerweile nur ein weiteres Beispiel für die krassen Unzulänglichkeiten geworden.  

Dabei haben die Bürgerinnen und Bürger in der Region – so wie alle Bürger – ein Recht auf mindestens drei grundlegende politische Leistungen: 

Das Wirtschaftswachstum muss nachhaltig und inklusiv sein – und finanzielle Ressourcen müssen in die essentiellen Systeme der Gesellschaft investiert werden, anstatt in die Taschen der bereits wohlhabenden Eliten zu fließen.

Zweitens muss Regierungshandeln wissenschaftliche Empfehlungen berücksichtigen und auch Regimekritiker ernsthaft einbeziehen; der politische-ideologische Wettbewerb sollte stets durch empirische Fakten und unparteiische Expertise untermauert werden.

Drittens sollten politische Entscheidungen transparent gemacht werden, damit die Bürgerinnen und Bürger sie besser verstehen und akzeptieren können. 

Diese drei sogenannten Output-Legitimationen haben zunächst einmal nichts mit der Schlüsselfrage nach freien und fairen Wahlen zu tun. Würden sie jedoch ernsthaft berücksichtigt, dann stünden zumindest eklatante Menschenrechtsverletzungen gegen Arbeitsmigranten, Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Oppositionelle und Aktivisten im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika nicht zur Debatte. Auch die vier Fußball-Wochen in Katar mit packenden Spielen, fantastischen Toren und glänzenden Stadien können nicht über die systemischen Risiken hinwegtäuschen, denen die Bürgerinnen und Bürger in der Region tagtäglich ausgesetzt sind. 

Jan Voelkel

© Qantara.de 2022

Jan Claudius Völkel ist Regionalkoordinator des Bertelsmann Transformationsindex BTI für den Nahen Osten und Nordafrika sowie Studienleiter bei IES Abroad Freiburg.