
Westliche Bilder über arabische FrauenEs lebe das Stereotyp
Interview mit einer Frau im Süden Jordaniens. Sie könnte kaum konservativer gekleidet sein. Kopftuch, langes Kleid, kein Make-up. Und doch, als sie anfängt zu erzählen und von ihrer Arbeit als Gemeinderätin in der Provinz Madaba berichtet, ist sie klar und kompromisslos. "Wir Frauen lassen uns nicht mehr aufhalten", zieht sie ihre persönliche Bilanz, nachdem sie dargestellt hat, wie schwer es war, sich im männlich dominierten ländlichen Jordanien Gehör zu verschaffen. Wie sie im Provinzrat dafür kämpft, dass die Interessen von Frauen berücksichtigt werden. Dass sie all ihren Einfluss dafür nutzt, Frauen und ihre Projekte zu stärken. Und wie weit der Weg noch ist, den sie gehen will.
Asma Rashahneh, 50 Jahre alt, ist nur eine von vielen aktiven arabischen Frauen. Von Libanon bis Jemen, von Jordanien bis Marokko, von den Emiraten bis in den Sudan ist ein enormer gesellschaftlicher Wandel im Gange. Familienbilder und Ehevorstellungen ändern sich. Jüngere Araberinnen erwarten mehr vom Leben als ihre Mütter und lassen sich weniger gefallen.
Was noch vor einer Generation Ausnahme war, wird zunehmend Alltag. Frauen gründen Unternehmen, ernähren als Alleinerziehende ihre Familien, sind Sportlerinnen, Künstlerinnen, Anwältinnen, Politikerinnen. In ihrer Freizeit entdecken sie neue Freiräume, ohne einen Bruder oder Vater als Aufpasser. Sie demonstrieren für ihre Rechte oder streiten für einen neuen, weiblichen Blick auf den Koran.
Einseitige Wahrnehmung
In den öffentlichen Debatten im Westen spielen diese Veränderungen weiblicher Lebenswelten allerdings kaum eine Rolle. Stattdessen wird das Leben von Frauen in der islamischen Welt weiterhin auf Zwangsheirat, Ehrenmord und männliche Gewalt reduziert. Der Buchmarkt produziert eine endlose Flut von Werken wie etwa "Ich wähle die Freiheit. Wie ich Zwangsehe und Unterdrückung überlebte und Hoffnung fand" (Adeo Verlag 2019).
Dabei haben die meisten arabischen Frauen wohl eher das Problem, wie sie die Miete zahlen, ihren Kindern den Schulbesuch ermöglichen und sich persönlich weiter entwickeln können. Für eine populäre westliche "Erweckungsliteratur" aber können orientalische Frauen nur dann ein eigenständiges Leben führen, wenn sie sich vollständig von ihren kulturellen und religiösen Wurzeln lösen.

Der lustvolle Fokus auf das grausige Einzelschicksal verstellt dann den Blick auf Kämpfe, Sehnsüchte und auch die Widersprüche arabischer Frauenleben. Denn extreme Beispiele sagen nur wenig über die Lebenswirklichkeit von Frauen aus. Die mediale Dauerdebatte über das Kopftuch verstärkt die Vorurteile noch.
Die Vorstellung von der "unterdrückten arabischen Frau" mit dem Kopftuch oder Hidschab als zentralem Symbol für ihren desolaten Zustand ist so zu einem besonders hartnäckigen Stereotyp geworden. Es gehört heute zum festen Inventar im Meinungsinventar einer breiten Mittelschicht. Das Bild einer Frau mit Kopftuch löst einen kollektiven Film aus, in dem der orientalischen Frau die Rolle der ewig schwachen, hilflosen Anderen zugeteilt ist. Das verstellt den Blick auf die sich wandelnden Lebenswelten von Frauen in der Region.
"Wir" sind befreit und "Ihr" seid unterdrückt
Arabische Frauen sind ohne Zweifel rechtlich und gesellschaftlich benachteiligt. Diskriminierung und sexualisierte Gewalt sind schwerwiegende Probleme. Sie müssen entschieden verurteilt werden. Der Islam hat wie Christentum, Judentum und die angeblich so toleranten Religionen Buddhismus und Hinduismus patriarchale Strukturen über Jahrhunderte verfestigt und gerechtfertigt.
Trotzdem blendet das Bild von der "unterdrückten arabischen Frau" Entscheidendes aus. Zunächst einmal spiegelt es nicht die ganze Bandbreite der Geschlechterbeziehungen in der Region. Auch in der arabischen Welt gibt es ein normales Familienleben mit Eltern, die ihre Töchter (und Söhne) liebevoll ermutigen und auf dem eigenen Weg unterstützen. Neben männlichen Paschas gibt es Väter und Ehemänner, die kompromissfähig sind und Beziehungen auf Augenhöhe leben. Vor allem aber verdienen es jene, die sich für mehr Frauenrechte in ihren Gesellschaften einsetzen, mit ihrem Engagement wahrgenommen zu werden.
Zum Stereotyp wird dieses Bild auch, weil es holzschnittartig die angeblich so freien Schwestern im Westen den armen Opfern in Arabien gegenüberstellt. Muslimischen Gesellschaften werden pauschal patriarchale Strukturen unterstellt, während man für westliche Gesellschaften durchgängig eine fortschrittliche Modernität in Anspruch nehme, sagt die Schweizer Sozialanthropologin Annemarie Sancar. In dieser Absolutheit stimme aber beides nicht.
Leserkommentare zum Artikel: Es lebe das Stereotyp
Der Beitrag von Claudia Mende ist hochinteressant und hochaktuell. Die Autorin analysiert die Funktion des in Deutschland weit verbreiteten Stereotyps von der "unterdrückten arabischen Frau" für die deutsche Gesellschaft und zeigt am Beispiel einer jordanischen Gemeinderätin, dass es in der gegenwärtigen arabischen Realität Frauen gibt, die dieses Stereotyp ad absudrum führen. Folgerichtig kommt die Autorin zu dem Schluss, dass arabische Frauen wie die jordanische Gemeinderätin Asma Rashashneh es verdienen, von der deutschen Öffentlichkeit "mehr wahrgenommen zu werden". Dieser Forderung möchte ich mich vorbehaltlos anschließen. Ich kenne auch arabische Frauen, die in der Wirtschaft, in der Verwaltung,in der Kultur und in ihren Famlien Großes leiseten und noch leisten; z. B. eine syrische Zivilingenieurin, die in der Kleinstadt Deir-Atieh der Sonnenenergie einführte. Natürlich darf man nicht die Widerstände verschweigen, gegen die diese Frauen kämpfen und sich am Ende durchsetzen. Emanzipierte arabische Frauen haben es wirklich nicht leicht. Fest steht jedoch, dass der verzerrten Wahrnehmung der arabischen Frau in Deutschland unbedingt entgegengewirkt werden müßte. Diese Wahrnehmung ist Ausdruck eines interkuturellen Vorurteils. Sie tut der arabischen Frau Unrecht und erschwert ausserdem den deutsch-arabischen Kultur-Dialog. Es liegt auf der Hand, dass sie sich auch auf die Integration der in Deutschland lebenden arabischen Gemeinden negativ auswirkt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf eine neue Pulikation zu dieser brisanten Thematik hinweisen: Abdo Abboud, Ulrike Stehli-Werbeck (Hg.): Die Wahrnehmung des Anderen in der arabischen Welt und in Deutschland. Beiträge eines internationalen Symposiums der Universität Münster. Lit Verlag 2017. Vielen Dank Claudia Mende!
Prof. Abdo Abbo...31.10.2019 | 17:28 UhrDanke für diesen richtig guten Artikel. Ich frage mich warum solche Artikel mit so gutem Inhalt entweder wenig oder gar nicht in größeren Medien zu finden sind. Explizit das behandelte Thema ist enorm wichtig. Ich denke am Ende kommt die Emanzipation der Frau genauso auch den Männern zugute. Sich von Dogmen zu befreien bringt Freiheit, und wer es schafft und schafft hat es leicht anderen dabei zu helfen.
Benjamin F.08.11.2019 | 22:53 UhrVielen Dank Frau Mende für den ausgezeichneten Beitrag.
Hildegard Schürings03.12.2019 | 11:15 UhrIch arbeite seit 25 Jahren regelmäßig in arabischen Ländern, z.B. in Algerien, Marokko, Tunesien, Ägypten, Libanon, Katar, insbesondere mit Frauen und kann ihre Stärken und Kompetenzen, ihr Selbstbewusstsein als Unternehmerinnen, Anwältinnen, Lehrerinnen und Professorinnen oder als Bäuerinnen, Kleinhändlerinnen, Näherinnen, und als Mütter und Ehefrauen bestätigen. Mehr als 50% der Studierenden und Professoren sind in fast allen arabischen Ländern Frauen, und mehr als 70% der Studierenden in den Naturwissenschaften sind Frauen. Ein Blickwechsel tut gut, um der vielfach verzerrten Wahrnehmung „der arabischen Frau und muslimischen Frau“ in Deutschland entgegenzuwirken.