Die wirtschaftliche Dimension der Arabellion

Der Arabische Frühling resultierte vor allem aus der sozialen Schieflage und der Misere großer Bevölkerungsteile innerhalb der arabischen Welt, argumentiert der syrische Historiker Nasser Rabbat. Und solange diese wirtschaftliche Ungleichheit anhält, wird das Gefüge dieser Staaten weiter wackeln.

Essay von Nasser Rabbat

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Revolutionen des Arabischen Frühlings mittlerweile eine teils extreme konfessionelle Dimension angenommen haben. Das sollte uns jedoch nicht vergessen lassen, dass ihre Ursachen und Motive hauptsächlich sozioökonomischer Natur sind. Diese Erkenntnis ist nicht nur notwendiger Bestandteil der Analyse der Auslöser der Revolutionen des Arabischen Frühlings. Sie ist auch, und das ist noch wichtiger, Voraussetzung für mögliche Lösungen, um die Probleme wirklich umfassend in den Griff zu bekommen.

In den Analysen der verschiedenen Aufstände und Kriege in der arabischen Welt, vom Irak und Syrien über den Libanon und Bahrain bis hin zum Jemen und dem Sudan, haben derzeit Politikansätze Konjunktur, die die konfessionellen Hintergründe der Konflikte übermäßig betonen. Gepaart mit Verschwörungstheorien, die allein in den Interventionen ausländischer Akteure und ihrer Unterstützung bestimmter Konfliktparteien den Hauptgrund  für den Niedergang bestimmter arabischer Staaten sehen, ist diese Deutungsweise mittlerweile zum dominanten Erklärungsmuster geworden.

Im Schatten des Kriegs der Konfessionen

Dass sich in diesen Konflikten eine konfessionelle Dimension herauskristallisiert hat, ist unbestritten. Klar ist auch, dass sich Finanziers aus dem In- und Ausland entlang konfessioneller Bruchlinien - und in geringerem Ausmaß auch entlang ethnischer Zugehörigkeiten - in diese Konflikte einmischen und lokale Bündnispartner aussuchen. Die zunehmende Bedeutung der konfessionellen Dimension, die in manchen Fällen andere Konfliktursachen überlagert, sollte jedoch nicht dazu führen, dass wir wichtige Faktoren ausblenden, die die Konflikte weiterhin maßgeblich befeuern und immer wieder neu entfachen. An erster Stelle steht hierbei die ökonomische Dimension der Konflikte.

Der wirtschaftliche Aspekt ist deshalb so wichtig, um die Hintergründe der derzeitigen Kriege in der arabischen Welt zu verstehen. Dazu gehören auch die Entwicklungen der jüngeren Geschichte, also die inneren Konflikte, der Ressourcenraub und ein generelles Gefühl der Übervorteilung in weiten Teilen der arabischen Gesellschaften, die zu diesen Kriegen geführt haben. In manchen Ländern besteht aus historischen Gründen eine enge Verbindung zwischen diesem Gefühl und bestimmten Konfessionszugehörigkeiten.

Proteste gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise in Jordanien am 1. Februar 2018; Foto: picture-alliance
Dynamik und Tragweite sozioökonomischer Aufstände: Soziale Proteste in Jordanien führten jüngst zum Sturz der Regierung. Im Januar 2018 waren in Amman Demonstranten massenhaft auf die Straße gegangen, als die Preise für Brot und Benzin sowie die Steuern auf Zigaretten und Internetanschlüsse erhöht wurden. Der Benzinpreis wurde zuletzt zum fünften Mal in diesem Jahr heraufgesetzt, Stromrechnungen stiegen seit Februar um 55 Prozent. Ministerpräsident Hani Mulki musste schließlich zurückgetreten.

So waren die Alawiten in Syrien, die Kurden im Norden Syriens und des Iraks, die Schiiten im Libanon und Bahrain, die Zaiditen im Jemen und die Christen im Sudan bis vor nicht allzu langer Zeit arme, vom Zentralstaat vernachlässigte Bevölkerungsgruppen, die durch andere Konfessionen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Diese waren in der Regel wirtschaftlich bessergestellt und verfügten - unrechtmäßig und gewaltförmig angeeignet - über einen größeren Anteil an den Ressourcen des Staates, als ihnen verhältnismäßig zugestanden hätte.

Soziale Misere als Katalysator der Aufstände

Zwar sind die Umstände von Land zu Land verschieden, insbesondere da die vom Krieg heimgesuchten Länder genauso wie andere heutige arabische Staaten das entstellte Produkt einer im Zuge der Gründung der modernen Nationalstaaten veränderten Bevölkerungszusammensetzung darstellen. Das sozioökonomische Ungleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Schichten zersetzt jedoch das Gefüge aller dieser Staaten seit ihrer Entstehung gleichermaßen. Das Ergebnis dieses Ungleichgewichts waren immer wieder Volksaufstände, Militärputsche und bewaffnete Konflikte, die manchmal erfolgreich waren, zumeist aber - wie zuletzt etwa der Arabische Frühling - scheiterten.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die meisten dieser Konflikte im Namen von Konfessionen, bestimmter Ethnien oder Territorien geführt, obwohl ihre Ursachen ökonomischer Natur waren. Die zu dieser Zeit entstehende arabische Literatur ignorierte aber diese Überschneidung zwischen der ökonomischen und der konfessionellen Dimension aus unterschiedlichen Gründen.

Der erste Grund war die sukzessive Machtübernahme sozialistischer Regime durch Militärputsche in Syrien, Ägypten, dem Irak, dem Jemen und dem Sudan. Deren planwirtschaftlicher Ansatz hätte nach Ansicht ihrer Vertreter sowohl die Klassengesellschaft überwinden, als auch das Gefälle zwischen verschiedenen Regionen beseitigen sollen. Der Ansatz scheiterte jedoch, vorwiegend aufgrund struktureller Probleme, an der spröden und wenig nachhaltigen Ideologie, die dem arabischen Sozialismus zugrunde lag. Er scheiterte aber auch an externen Ursachen, allen voran am israelischen Staat, der mitten im Herzen der arabischen Welt nie von seiner Vision eines Großisrael abgelassen hatte, das nach der Prophezeiung der Tora nicht nur Palästina, sondern auch viele weitere arabische Gebiete umfassen sollte.

Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser und Libyens Muammar al-Gaddafi; Foto: dpa/AP
Gescheitertes sozialistisches Experiment: Der planwirtschaftliche Ansatz hätte sowohl die Klassengesellschaft überwinden, als auch das Gefälle zwischen verschiedenen Regionen beseitigen sollen. Der Ansatz scheiterte jedoch, vorwiegend aufgrund struktureller Probleme, an der spröden und wenig nachhaltigen Ideologie, die dem arabischen Sozialismus zugrunde lag.

Der zweite Grund bestand in der Monopolisierung des Handels und der natürlichen Ressourcen des wirtschaftlichen Reichtums dieser Länder, wie Öl und Wasser, durch die herrschenden Schichten - insbesondere im Irak, im Jemen und im Libanon. Diese gehörten allesamt einer bestimmten Konfession oder Ethnie an.

Der dritte Grund ist größtenteils psychologischer Natur und eng mit den beiden vorangegangenen verknüpft: In einigen dieser Länder, insbesondere in Syrien und dem Libanon vor und nach dem Bürgerkrieg, gelang es den bislang marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen an die Macht zu kommen. Im Machtzentrum angekommen, verfuhren diese neuen politischen Eliten mit der Wirtschaft ihrer Länder wie ihre Vorgänger – mit dem Unterschied, dass sie ihrerseits das Monopol nun an sich reißen konnten.

Brot und soziale Gerechtigkeit – das wahre Gesicht der Arabellion

Die Hintergründe des Arabischen Frühlings waren eindeutig sozioökonomischer Natur, auch wenn er sich vordergründig gegen die Machenschaften der jeweiligen herrschenden Regime richtete, die sich in ihrer Machtfülle und Arroganz immer weiter korrumpierten und bereicherten. Das Motiv des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der sich selbst in Brand steckte und damit die Revolution in Tunesien entfachte, waren wirtschaftliche Gründe, die sich mit einem tiefsitzenden Gefühl der Deprivation vermischten.

Die Ägypterinnen und Ägypter revoltierten nicht nur um der Freiheit Willen gegen das Regime Hosni Mubaraks, sondern auch für bezahlbares Brot und soziale Gerechtigkeit. Ich würde sogar behaupten, dass sich die einfachen Menschen dieser überwältigenden Revolution, die im Internet ihren Ausgangspunkt hatte, nur aufgrund der elenden Lebensbedingungen anschlossen, die ihnen das Regime Mubaraks und seine Clique aufzwang, um die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds zu erfüllen.

Das gleiche Bild bietet sich auch bei der Betrachtung der Konfliktparteien im Bürgerkrieg im Libanon und im Irak, der sich nach der amerikanischen Invasion dem eisernen Griff des Baath-Regimes entzogen hatte. Bereits der Imam Musa Al-Sadr hatte unter dem Schlagwort der "Entbehrung" seine schiitisch-politische Bewegung im Libanon ins Leben gerufen, aus der später sowohl die Amal-Bewegung und ihre Partei, als auch die Hisbollah hervorgehen sollten.

"Kifaya"-Demonstration in Kairo gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise; Foto: Getty Images/AFP/K. Desouki
Vorboten des nahenden Aufstands: Anhänger der ägyptischen Protestbewegung „Kifaya“ (zu deutsch: „Es reicht!“ demonstrieren am 18. Januar 2007 in Kairo gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise. Die Bewegung hatte sich nach ihrer Gründung im Jahr 2004 zunächst gegen eine weitere, fünfte Amtszeit von Präsident Mubarak gerichtet und zahlreiche Proteste in Ägypten organisiert. Die Popularität der „Kifaya“ wuchs seitdem beständig. In den Jahren 2006 und 2007 nahmen im Gefolge von Privatisierungen von Staatsunternehmen Streiks zu, die dann am 6. April 2008 in einem groß angelegten Protest der Textilarbeiter in der Stadt Mahalla al-Kubra kulminierte. Daraus entwickelte sich die "6. April-Bewegung", die beim Aufstand gegen das Mubarak-Regime im Januar 2011 eine entscheidende Rolle spielen sollte.

Auch die Schiiten im Irak verwendeten ähnliche Slogans in ihren politischen beziehungsweise militärischen Organisationen, die den Zusammenbruch des unterdrückerischen Regimes Saddam Husseins nutzten, um selbst nach der Macht zu greifen. Dabei appellierten sie massiv an das Gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen marginalisiert und übergangen worden zu sein, und profitierten von dem weitverbreiten Wunsch nach Wiedergutmachung, egal mit welchen Mitteln.

Politisch gespalten und geteilt

Der Jemen und der Sudan blicken ihrerseits auf eine jahrzehntelange Historie der politischen Verfolgung, der Misswirtschaft und der Vernachlässigung staatlicher Strukturen und bestimmter Regionen zurück. So kommt es, dass der Sudan in einen muslimischen und einen christlichen Staat zerfallen ist. Und dem Jemen könnte ebenfalls erneut die Teilung drohen, auch wenn dort bis dato die konfessionellen Grenzen noch nicht der Gebietsaufteilung entsprechen.

Bleibt noch Syrien, das in vergangenen sieben Jahren einen weitaus höheren Preis als alle anderen arabischen Länder gezahlt hat, die zum Schauplatz für Konflikte mit einem deutlichen konfessionellen Anstrich geworden sind. Insbesondere dort hat die wirtschaftliche Dimension entscheidend dazu beigetragen, einerseits die Armen zu mobilisieren und andererseits die Mittelschicht zu paralysieren, obwohl sie beide zur Bevölkerungsmehrheit der Sunniten gehören und der alawitisch-konfessionalistische Hintergrund des Regimes eindeutig ist.

Es war die einfältige Wirtschaftspolitik des Staates und die langanhaltende Dürreperiode im Euphrat-Tal zu Beginn des neuen Jahrtausends, die das Gefühl der Deprivation und der Übervorteilung zusätzlich befeuerten. Schließlich gingen die Menschen aus den armen bäuerlichen Siedlungen, die sich um große urbane Zentren wie Damaskus und Aleppo gebildet hatten, und den kleineren Städten wie Homs und Hama, die wirtschaftlich in hohem Maße von der Land- und Viehwirtschaft abhängig sind, mit aller Entschlossenheit auf die Straße.

Dass diese Proteste mittlerweile eine teils extreme konfessionelle Dimension angenommen haben, sollte uns nicht vergessen lassen, dass ihre Ursachen hauptsächlich sozioökonomischer Natur sind. Diese Erkenntnis ist nicht nur notwendiger Bestandteil bei der Analyse, was genau die Revolutionen des Arabischen Frühlings ausgelöst hat, sondern auch, und das ist noch viel entscheidender, was getan werden kann, um diese grundlegenden Probleme an der Wurzel zu packen und zu beseitigen.

Nasser Rabbat

© Qantara.de 2018

Der Architekt und Historiker Nasser Rabbat ist Aga Khan Professor und Direktor des Aga Khan Programms für Islamische Architektur am MIT in den Vereinigten Staaten.

Aus dem Arabischen von Thomas Heyne