Zwischen Horror und schwarzer Magie

Lange Schlangen vor den Kinosälen und reihenweise ausverkaufte Vorstellungen: der Film "Dachra" bricht in Tunesien derzeit alle Zuschauerrekorde. Sarah Mersch hat ihn gesehen.

Von Sarah Mersch

Vor allem junge Leute sind neugierig auf den ersten tunesischen Horrorfilm, der bereits im ersten Monat in Tunesien 200.000 Besucher zählen konnte: eine absolute Ausnahme in einem Land mit nur 11 Millionen Einwohnern und einem guten Dutzend Kinosäle. Die Handlung von "Dachra" ist schnell erzählt: Yasmine, Bilel und Walid studieren Journalistik. Zum Semesterabschluss sollen sie eine TV-Reportage drehen. Die einzige Vorgabe ihres Professors ist, dass sie nichts mit der tunesischen Revolution zu tun haben soll.

Einer der drei Studierenden hat vor kurzem die mysteriöse Geschichte einer Frau namens Mongia gehört. Vor mehr als 20 Jahren wurde sie mit halb aufgeschnittener Kehle am Rand einer Landstraße gefunden. Seitdem ist sie in einer Psychiatrie untergebracht, spricht nicht mehr und ist aggressiv. Die Mitarbeiter erzählen, sie sei eine Hexe. Das Thema ist gefunden und die Studierenden machen sich an die Arbeit.

Als die Nachwuchsjournalisten am Krankenhaus abgewiesen werden und die Existenz der Frau verleugnet wird, machen sie sich auf die Suche nach dem Ort, wo Mongia damals gefunden wurde, einem Weiler ("Dachra" im Arabischen) im Nordwesten des Landes, der dem Film seinen Namen gibt.

Festmahl des Grauens

Sie landen in einer düsteren Ansammlung von Häusern mitten im Wald, gruppiert um ein verfallenes Hotel. Begeistert werden sie von einem männlichen Bewohner begrüßt und zum Essen eingeladen. Doch das Festmahl bei Kerzenschein ist verstörend: die schwarz gekleideten Frauen am Tisch sprechen nicht, serviert wird rohes Fleisch unbekannten Ursprungs. Bald wird klar, dass die drei jungen Leute von diesem Ort so schnell nicht mehr wegkommen.

Während die Referenzen "Dachras" an Filme wie "Blair Witch Project" und andere erfolgreiche Horrorfilme der letzten Jahrzehnte nicht zu übersehen sind, besticht der Film vor allem durch seine Bildsprache, die Regisseur Abdelhamid Bouchnak und Kameramann Hatem Nechi trotz begrenzter finanzieller Mittel überlegt gestaltet haben. Die Kamera trägt einen entscheidenden Anteil daran, die Zuschauer nachhaltig zu verstören, genau so wie eine Reihe an versteckten Hinweisen auf den Ursprung des Horrors, die sich oft erst im Nachhinein erschließen.

Dass "Dachra" in Tunesien zum Kassenschlager geworden ist, liegt aber auch daran, dass es Regisseur Bouchnak gelungen ist, einen eigenen Referenzrahmen zu schaffen, der über die Klassiker des Genres hinausgeht. Denn "Dachra" ist nicht nur der erste tunesische Horrorfilm, der Horror ist genuin tunesisch.

Die Schauerrituale, die die Journalisten nach und nach in der Siedlung entdecken, sind allesamt der schwarzen Magie des Landes entnommen. Kinder werden geopfert, um einen verborgenen Schatz zu finden; Menschen verflucht, in den man ihr Foto einem toten in den Mund legt und ihm dann die Lippen vernäht, das Nationalgericht Couscous von der Hand eines Toten gesiebt, Wünsche und Verfluchung mit Blut geschrieben.

Kritische Auseinandersetzung mit überkommenen Riten

Über den bloßen Ekel hinaus, den diese Szenen hervorrufen, und ihrer Bedeutung für das Genre des Films, setzt sich der Regisseur, Sohn des bekannten tunesischen Sängers Lotfi Bouchnak, kritisch mit diesen historischen Praktiken auseinander. "Natürlich sind die meisten dieser makabren Rituale heute eine absolute Ausnahme, doch sie existieren nach wie vor", so Abdelhamid Bouchnak, der seine Aufgabe auch darin sieht, solche Praktiken scharf zu kritisieren. "Das ist doch wahnsinnig! Da haben die Leute einerseits ein Facebook-Profil, andererseits glauben sie weiterhin an Hexerei. Sie haben keinerlei Respekt vor dem menschlichen Wesen."

Filmszene aus "Dachra"; Quelle: YouTube
Dem Grauen auf der Spur: Die Schauerrituale, die die Journalisten nach und nach in der Siedlung entdecken, sind allesamt der schwarzen Magie des Landes entnommen. Kinder werden geopfert, um einen verborgenen Schatz zu finden; Menschen verflucht, in den man ihr Foto einem toten in den Mund legt und ihm dann die Lippen vernäht, das Nationalgericht Couscous von der Hand eines Toten gesiebt, Wünsche und Verfluchung mit Blut geschrieben. Der Film weckt Reminiszenen an "Blair Witch Project".

Eigentlich hatte der Filmemacher gar nicht geplant, einen Horrorfilm zu drehen. "Das hat sich erst beim Schreiben des Drehbuchs entwickelt. Das Genre hat sich mir quasi aufgedrängt", erzählt er. Außerdem sei er selbst ein großer Fan von Horrorfilmen. "Dachra", der bereits beim letzten Filmfestival von Venedig lief, ist der erste lange Spielfilm des Mittdreißigers, der in Tunesien und Kanada Film studiert hat und bereits einige Kurzfilme und Webserien gedreht hat.

Junges Filmteam, kleines Budget

"Dachra" hat er mit einem jungen Team, jungen Schauspielern und einem kleinen Budget gedreht. Das Interesse des tunesischen Publikums freut Bouchnak daher gleich doppelt. Denn einerseits hilft es, ein wenig Geld in die leeren Kassen der Produktionsfirma zu spülen. "Das hilft ungemein, die Kosten zu decken. Vermutlich ist es eine Premiere in der Geschichte des tunesischen Kinos, dass die Eintrittsgelder die Produktionskosten wieder einspielen." Zum anderen sei er stolz, dass sein Film vor allem jüngere Zuschauer wieder mit dem tunesischen Kino versöhnen würde.

Denn vor allem die jüngere Generation war den Kinosälen und dem klassischen tunesischen Autorenkino in den letzten Jahren immer mehr fern geblieben. Über Genrefilme seien sie leichter zu erreichen, glaubt Bouchnak.

Derzeit dreht er eine Fernsehserie, die im Ramadan 2019 laufen soll. Und danach will er sich an sein nächstes Filmprojekt machen. "Wahrscheinlich kein Horror-, aber sicherlich wieder ein Genrefilm."

Sarah Mersch

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