Der vergiftete Olivenzweig

Die Türkei hat ihren zweiten Feldzug im Norden Syriens begonnen. Doch diesmal geht es nicht gegen den "Islamischen Staat". Die neuen alten Gegner sind die Kurden. Das hat auch Auswirkungen auf die Beziehungen zu Russland. Eine Analyse von Michael Martens

Von Michael Martens

Geht es um die Selbstbestimmung der Kurden, handelt Ankara nach der Devise: Wehret den Anfängen. Nicht nur eine Unabhängigkeit für Syriens Kurden lehnt die türkische Regierung ab, sondern selbst eine autonome kurdische Region innerhalb eines künftig neu verfassten syrischen Staates will die Türkei unbedingt verhindern – auch mit militärischer Gewalt.

Alles, was die kurdische Bevölkerungsgruppe in Südostanatolien zum Nacheifern anregen könnte, soll unterbunden werden. Dieser Linie folgt auch der zweite türkische Feldzug in Syrien, der am Samstag (20.1.2018) begonnen hat. Der erste nannte sich "Schutzschuld Euphrat", währte offiziell von August 2016 bis März 2017 und richtete sich gegen Terroristen des "Islamischen Staates" (IS) und Kämpfer der kurdischen "Volksschutzeinheiten" (YPG) in den nordsyrischen Grenzgebieten der Türkei. Die YPG-Einheiten sind aus staatlicher türkischer Sicht ebenfalls Terroristen.

Der zweite Feldzug heißt nun "Operation Olivenzweig" und richtet sich nur gegen Kurden. Zwar behaupten türkische Regierungsmedien, es gehe wiederum sowohl gegen den IS als auch gegen die YPG, doch die Berichte widersprechen sich selbst. Denn in ihnen wird die Region Afrin, gegen die sich der Feldzug zunächst richtet, zugleich als Gebiet dargestellt, das gänzlich von den "Volksschutzeinheiten" kontrolliert werde und unter deren "Terror" leide.

Tatsächlich ist Afrin mit seinem gleichnamigen Hauptort einer von drei Kantonen im Norden Syriens, die seit einigen Jahren von Kurden kontrolliert werden – und für den IS gibt es da keinen Platz.

Der IS stand zwar 2014 einmal kurz vor der Eroberung von Kobane, einem der drei kurdischen Kantone, wurde jedoch zurückgeschlagen. Dass Afrin nicht vom IS bedroht wird, ist indirekt auch aus amerikanischen Stellungnahmen der vergangenen Tage ablesbar. Darin wird hervorgehoben, dass Washington zwar mit den syrischen Kurden im Kampf gegen den IS verbündet sei, sich diese Koalition aber nicht auf das Gebiet Afrin beziehe. Weil dort, wie zu vermuten ist, keine islamistischen Freischärlertrupps existieren, die zu bekämpfen wären.

Terrorgruppen "neutralisieren"

Syrien YPG Kämpfer in Qamishli; Foto: Getty Images/AFP/D. Souleiman
Der türkischen AKP-Regierung ein Dorn im Auge: Die YPG-Einheiten sind aus staatlicher türkischer Sicht Terroristen. Die YPG, die im Bürgerkrieg in Syrien das von den USA unterstützte Militärbündnis der SDF anführen, gelten als syrischer Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei. Auch in der Europäischen Union ist die PKK als Terrororganisation eingestuft.

In der offiziellen Darstellung der Türkei sieht das anders aus. Laut einer Mitteilung des Generalstabs in Ankara stehen die türkischen Streitkräfte seit Samstag um fünf Uhr nachmittags in einem Kampf, dessen Ziel es sei, die Terrorgruppen zu "neutralisieren" und "die brüderlichen Völker der Region von Unterdrückung und Tyrannei" zu befreien. Zwar wird in den offiziellen und offiziösen Meldungen nicht wörtlich behauptet, die brüderlichen Völker hätten selbst um ihre Befreiung durch die Türkei gebeten, doch geht dies dem Sinn nach aus den Verlautbarungen hervor.

Die Zeitung "Hürriyet" zitierte eine nicht genannte Regierungsquelle mit der Aussage, Ziel der "Operation Olivenzweig" sei es, nach der Vertreibung der YPG der Bevölkerung von Afrin die Selbstverwaltung zu ermöglichen und demokratische Institutionen aufzubauen. Ob die demokratischen Institutionen in Afrin nach demselben Muster aufgebaut werden sollen, wie dies in den vergangenen Jahren in der Türkei Tayyip Erdogans geschehen ist, blieb offen.

Die YPG ist zwar personell tatsächlich aus der kurdischen Terrororganisation PKK hervorgegangen, hat aber in den von ihr kontrollierten syrischen Gebieten leidlich demokratische Strukturen etabliert, zumindest im regionalen Vergleich. Ihr Modell regionaler Selbstverwaltung mit hoher Beteiligung von Frauen an der Politik steht so ziemlich allem entgegen, was die türkische Regierung anstrebt.

Dass Afrin in deren Visier geraten könnte, ist deutlich, seit die Kurden im Zuge des partiellen Machtverfalls des syrischen Diktators Assad dort ihre Selbstverwaltung etabliert haben.

Als der amerikanische Verteidigungsminister James Mattis im August des vergangenen Jahres in die Türkei kam, um mit dem Nato-Partner den Kampf gegen den IS zu koordinieren, nutzte Erdogan die Gelegenheit, um klarzustellen, sein Land werde niemals zulassen, dass in Syrien ein kurdischer "Terrorkorridor" entstehe. Sollte sich eine solche Gefahr abzeichnen, "dann werden wir intervenieren", sagte Erdogan und präzisierte: "Unsere Entschlossenheit hinsichtlich Afrin bleibt. Unsere Pläne laufen weiter wie gehabt."

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: picture-alliance/abaca
Kompromisslose Härte: Er habe die Rückendeckung Russlands für den Militäreinsatz, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag in Ankara. Die türkische Armee werde die Provinz Afrin ebenso unter ihre Kontrolle bringen wie zuvor schon Dscharablus, al-Rai und al-Bab. Erst dann könnten die Syrer dorthin zurückkehren.

Russland zeigt sich solidarisch gegenüber der Türkei

Dass es nach der präsidialen Einmarschankündigung noch fünf Monate dauerte, bis die Türkei ihre Pläne ausführte, hat mehrere Gründe. Zum einen wandten sich die Amerikaner im vergangenen Jahr strikt gegen einen Angriff auf Afrin, da man die kurdischen Kämpfer im Kampf um die syrische IS-Hochburg Raqqa, der damals noch nicht entschieden war, unbedingt brauche.

Zudem benötigte die Türkei für eine Operation gegen Afrin, insbesondere für Luftangriffe, die Rückendeckung oder wenigstens billigende Inkaufnahme Russlands. Moskau hat nämlich nicht nur ein S-400-Raktenabwehrsystem in Syrien stationiert, sondern seit dem vergangenen Jahr auch eine der Öffentlichkeit unbekannte Zahl von Militärbeobachtern in Afrin.

Es war kein Zufall, dass der türkische Generalstabschef Hulusi Akar und Geheimdienstleiter Hakan Fidan Ende vergangener Woche zu Gesprächen mit der russischen Militärführung nach Moskau reisten. Es ging offenbar just um die Feinabstimmung der russischen Haltung zur türkischen Offensive.

Der Mehrwert, den Russland darin sieht, ist klar: Zwar hat auch Moskau die kurdischen Freischärler in Syrien unterstützt, und der russische Außenminister Sergej Lawrow bekundete in den vergangenen Jahren zum Verdruss Ankaras mehrfach Verständnis für die Bestrebungen der Kurden nach politischer Eigenständigkeit. Doch zugleich sind die YPG-Truppen Verbündete der Amerikaner, was ihre Bekämpfung durch die Türken in der Moskauer Nullsummenlogik schon deshalb gewinnbringend erscheinen lässt, weil es den Konflikt zwischen den Nato-Partnern Washington und Ankara vertiefen könnte.

Warten auf Amerikas Reaktion

Türkische Angriffe auf Militärposten der YPG in Nordwest-Syrien; Foto: picture-alliance/abaca
Ausweitung der Kampfzone: Die türkischen Streitkräfte sind in die nordsyrische Provinz Afrin eingerückt, um die mit den USA verbündete Kurdenmiliz YPG zu vertreiben. Ziel der “Operation Olivenzweig” ist nach den Worten von Ministerpräsident Binali Yildirim die Einrichtung einer 30 Kilometer breiten Sicherheitszone.

Russische Stellungnahmen vom Wochenende deuten jedenfalls darauf hin, dass die Moskaureise des türkischen Generalstabschefs erfolgreich war. Die jüngste Krise sei durch "provokative Schritte" der Vereinigten Staaten ausgelöst worden, teilte das russische Verteidigungsministerium mit und kritisierte "unkontrollierte Lieferungen moderner Waffen an proamerikanische Gruppierungen im Norden Syriens".

Zudem hieß es aus Moskau, man habe Militärpolizei sowie Soldaten aus dem Gebiet um Afrin abgezogen – eine wichtige Vorbedingung für den türkischen Angriff, denn nichts wäre schädlicher für die Türkei, als wenn bei den Kampfhandlungen außer Kurden auch Russen ums Leben kämen. Die drastische Moskauer Reaktion auf den Abschuss eines russischen Kampffliegers durch die Türkei Ende 2015 – Tourismusboykott, Einfuhrverbot für türkische Waren und Drohung militärischer Konfrontation in Syrien – hat man in Ankara nicht vergessen.

Nun kann Russland in aller Ruhe zusehen, wie die Amerikaner darauf reagieren, dass die Türkei ihre effektivsten lokalen Hilfstruppen im Kampf gegen den IS in Syrien angreift. Medien in der Türkei zitierten einen Pentagon-Sprecher mit der Aussage, die amerikanisch geführte Koalition habe keine laufenden Operationen in Afrin, da sie auf dem Kampf gegen den IS konzentriert sei, was in Ankara als Billigung des türkischen Angriffs verstanden wurde.

Der amerikanische Außenminister Rex Tillerson hatte jedoch in der vergangenen Woche gesagt, sein Land plane, einstweilen in Syrien zu bleiben, um der Entstehung eines "IS 2.0" vorzubeugen.

Sollte sich auf dem Nährboden des syrischen Krieges eine solche Neuauflage des IS entwickeln, könnten die kurdischen Einheiten wieder wichtig werden für die Amerikaner.

Doch wie wird es sich auf die Kampfmoral und die Loyalität der YPG gegenüber ihren amerikanischen und russischen Partnern weiter östlich in Syrien auswirken, wenn ihr Außenposten Afrin im Westen nun der Türkei überlassen wird?

Michael Martens

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018