Falsch, aber nicht unbegründet

In Deutschland gibt es wenig Verständnis für die Offensive Ankaras in Afrin. Dabei ist es durchaus verständlich, wenn die Türkei die Präsenz einer Gruppe an ihrer Grenze als Bedrohung empfindet, deren Mutterpartei seit Jahrzehnten gegen den türkischen Staat kämpft. Ulrich von Schwerin kommentiert.

Von Ulrich von Schwerin

Die türkische Militäroperation gegen die syrischen Kurden in Afrin stößt in Deutschland quer durch alle Parteien auf Kritik, und auch die Sympathie der Medien gilt klar den Kurden. Nun ist zwar Kritik am türkischen Vorgehen in Afrin durchaus berechtigt, doch macht es sich zu leicht, wer die Sicherheitsbedenken Ankaras einfach vom Tisch wischt. Denn tatsächlich stellt es eine Bedrohung für die Türkei dar, wenn sich an ihrer Südgrenze der Ableger einer Rebellengruppe festsetzt, die seit drei Jahrzehnten im türkischen Südosten einen blutigen Kampf gegen den Staat führt.

Anders als in Deutschland vielfach dargestellt, stehen die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihr militärischer Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nicht einfach nur ideologisch nahe, sondern sind auch strukturell und personell so eng verbunden, dass manche Experten von einer organischen Einheit sprechen. Die PYD wurde nicht nur 2003 als syrischer PKK-Ableger gegründet, sondern macht auch heute aus ihrer Nähe zur PKK keinen Hehl.

Allgegenwärtiger Abdullah Öcalan

In den PYD-Büros hängen Bilder des in der Türkei inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan, bei PYD-Kundgebungen werden Öcalan-Fahnen geschwenkt, und nach der Eroberung der Dschihadistenhochburg Rakka hängten die YPG-Kämpfer als erstes sein Bild im Stadtzentrum auf. Journalisten aus Rakka berichten zudem, dass in den Kommandostrukturen der YPG PKK-Kämpfer eine zentrale Rolle spielen. Zwar mag es zu weit gehen, sie als dieselbe Organisation zu betrachten, doch sind die Verbindungen der YPG zur PKK unbestreitbar.

Einheiten der "Syrian Democratic Forces" vor einem Poster Öcalans nach der Einnahme Rakkas am 19. Oktober 2017; Foto: AFP/Getty Images
Politische Nähe zur PKK: Nach der Eroberung der Dschihadistenhochburg Rakka hängten die YPG-Kämpfer als erstes sein Bild im Stadtzentrum auf. Journalisten aus Raka berichten zudem, dass in den Kommandostrukturen der YPG PKK-Kämpfer eine zentrale Rolle spielen. Zwar mag es zu weit gehen, sie als dieselbe Organisation zu betrachten, doch sind die Verbindungen der YPG zur PKK unbestreitbar.

Besonders bei Teilen der deutschen Linken wird die PKK bis heute als revolutionäre Befreiungsbewegung verklärt, die für Freiheit, Demokratie und Frauenrechte kämpft. Dabei ist die PKK eine doktrinäre, autoritäre Kaderpartei mit Führerkult, die seit ihrer Gründung Gewalt und Zwang als Mittel der Wahl begreift. Ihre Politik beruht auf Polarisierung und Repression; wer nicht für sie ist, wird bekämpft, interne Gegner werden ausgeschaltet, rivalisierende Gruppen verfolgt, Abweichler, Aussteiger und angebliche Kollaborateure des Staates bestraft.

Ihre Gewalt richtet sich nicht allein gegen Soldaten und Polizisten, sondern macht auch vor Politikern und Lehrern nicht halt. Zivile Opfer werden in Kauf genommen; die Repression des Staates ist mit Teil des Kalküls, um die kurdische Bevölkerung zu mobilisieren. Mit ihrer Entscheidung, im Herbst 2015 den Krieg in die Städte zu tragen, hat sie deren Einwohner in die Schusslinie gestoßen. Verhandlungen hat die PKK lange ganz abgelehnt, und noch während der 2015 gescheiterten Friedensgespräche wies ein Teil der Führung einen Gewaltverzicht zurück.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die türkische Regierung wütend ist, dass die USA den syrischen Ableger dieser Gruppe im Kampf gegen die Dschihadisten mit Waffen ausrüsten. Man muss schon sehr naiv sein zu glauben, dass diese Waffen nicht den Kampf der PKK gegen die Türkei befeuern werden. Besonders empört es die Türkei, dass die USA auch nach dem Sieg über den "Islamischen Staat" (IS) an dem umstrittenen Bündnis festhalten und unter Beteiligung der YPG-Kämpfer eine 30.000 Mann starke Grenzschutztruppe aufstellen wollen.

Die YPG – ein Freund des Westens?

Nun sind die YPG-Milizen tatsächlich ein wichtiger, schwer verzichtbarer Verbündeter im Kampf gegen die Dschihadisten, doch sind sie deshalb ein Freund des Westens? Wenn die syrischen Kurden gegen den IS gekämpft haben, dann nicht, um dem Westen einen Gefallen zu tun, sondern aus eigenem Interesse. Ihnen ging es darum, ihre eigenen Städte und Dörfer zu befreien, zudem haben sie große nicht-kurdische Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht, die sie bei Verhandlungen über die Nachkriegsordnung als Faustpfand einsetzen können.

Der türkische Präsident Erdogan (vorne, 2. v. l.) zu Besuch auf der grenznahen Militärbasis in Hatay; Foto: picture-alliance
Ausweitung der Kampfzone: Der türkische Präsident REcep Tayyip Erdogan hatte vergangene Woche angekündigt, die türkische Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien auf das gesamte Grenzgebiet auszuweiten. Das würde einen Einsatz auf syrischem Boden bis hin zur Grenze zum Irak im Osten bedeuten. “Die Operation Ölzweig wird fortgesetzt, bis ihre Ziele erreicht sind”, sagte Erdogan.

Das Erstarken der YPG wird in Ankara aus verständlichen Gründen mit Sorge verfolgt. Für die Türkei ist es schwer hinnehmbar, dass an ihrer Südgrenze ein PKK-Ableger quasi-staatliche Strukturen aufbaut und dabei auch noch von ihrem Nato-Partner USA unterstützt wird. Und dennoch ist die türkische Offensive in Afrin falsch.

Entgegen der Behauptung Ankaras geht von der syrischen Region keine akute Bedrohung für die Türkei aus. Für PKK und YPG hat der Aufbau und die Absicherung ihres syrischen Autonomieprojekts bis auf weiteres Vorrang vor dem Kampf gegen die Türkei. Zudem mag Ankara noch so oft versichern, nur "Terroristen" ins Visier zu nehmen, die Offensive trifft auch die Zivilbevölkerung. Dies ist umso schmerzvoller, da Afrin bisher weitgehend von der Gewalt verschont geblieben war, die seit Jahren den Rest Syriens zerreißt.

Ein ausschließlich politisch lösbarer Konflikt

Die Offensive ist auch falsch, weil die YPG trotz ihren engen Verbindungen zur PKK eine eher positive Rolle in Syrien gespielt hat. Im Vergleich zur zersplitterten, zerstrittenen und von Islamisten dominierten Opposition steht sie für Stabilität und Mäßigung. Das kurdische Autonomieprojekt im Norden Syriens kann sogar als Vorbild für den Rest des Landes dienen. Zwar sind die bisherigen Strukturen der kurdischen Kantone auch nur bedingt demokratisch und pluralistisch, doch ist diese Form der Selbstverwaltung zukunftsweisend.

YPG-Kämpfer auf einem Panzerwagen in der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei; Foto:
"Die Türkei kann nur scheitern, wenn ihr Ziel tatsächlich ist, Afrin und die anderen kurdischen Kantone unter ihre Kontrolle zu bringen. Die YPG-Milizen sind gut bewaffnet, kampferprobt und tief in der kurdischen Bevölkerung verwurzelt. Vor allem aber ist die Offensive falsch, weil Ankara damit einen Konflikt militärisch zu lösen versucht, der nur politisch beigelegt werden kann", meint Ulrich von Schwerin.

Die Türkei kann nur scheitern, wenn ihr Ziel tatsächlich ist, Afrin und die anderen kurdischen Kantone unter ihre Kontrolle zu bringen. Die YPG-Milizen sind gut bewaffnet, kampferprobt und tief in der kurdischen Bevölkerung verwurzelt.

Vor allem aber ist die Offensive falsch, weil Ankara damit einen Konflikt militärisch zu lösen versucht, der nur politisch beigelegt werden kann. Ohne politische und kulturelle Zugeständnisse, wie sie während des Friedensprozesses diskutiert worden waren, ist der Konflikt mit der PKK einfach nicht zu entschärfen.

Solange die Türkei dagegen auf Gewalt setzt, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn ihre eigenen Sicherheitsinteressen ignoriert werden. Solange sie dem legitimen Streben der Kurden nach mehr Selbstbestimmung vor allem mit Repression begegnet, wird es der PKK zudem leicht fallen, sich als Verteidiger der Kurden und als Vorkämpfer für Freiheit zu gerieren.

Wenn es Ankara dagegen gelingt, den Konflikt mit den eigenen Kurden beizulegen, wird sie auch die Autonomiebestrebungen jenseits ihrer Grenze nicht mehr fürchten müssen.

Ulrich von Schwerin

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