Die stolzen Hüter der Republik

Die Rolle des türkischen Militärs wird vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen. Anders als in nahezu allen nahöstlichen Nachbarstaaten haben die türkischen Streitkräfte nie die Errichtung einer Militärdiktatur angestrebt. Von Loay Mudhoon

Die Rolle des türkischen Militärs wird vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen. Anders als in nahezu allen nahöstlichen Nachbarstaaten haben die türkischen Streitkräfte nie die Errichtung einer Militärdiktatur angestrebt. Von Loay Mudhoon

Recep Tayyip Erdogan und der türkische Generalstabschef Ilker Basbug; Foto: picture alliance/dpa/DW
Zwei Pole im politischen System der Türkei: der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der türkische Generalstabschef Ilker Basbug

​​ Das türkische Militär ist vom politischen Leben am Bosporus nicht wegzudenken. Die Streitkräfte spielten und spielen bis heute eine zentrale Rolle im politischen Entscheidungsfindungsprozess. Sie werden von anderen Gewalten nicht kontrolliert – und agieren deshalb innerhalb der staatlichen Sphäre weitgehend autonom.

Dieser Sonderstatus wird alle zwei Jahre durch den turnusmäßigen Wechsel an der Spitze der türkischen Armee eindrucksvoll demonstriert: Beim staatstragenden Ernennung des neuen Generalstabchefs hat weder Ministerpräsident Erdoğan noch das türkische Parlament Mitspracherecht.

Und so musste Erdoğan die Ernennung des von der Armeeführung vorgeschlagenen General İlker Başbuğ bei der jüngsten Ernennung auch nur formal bestätigen. Einige Politikwissenschaftler sprechen angesichts dieser einmaligen Machtfülle der Generäle gar von einer "Militär-Demokratie".

Der Nationale Sicherheitsrat als faktische Gegenregierung

Vor allem mittels des "Nationalen Sicherheitsrates", der nach dem Putsch im Jahre 1960 gegründet wurde, übt die Armee großen Einfluss auf alle staatlichen Gewalten aus. Der Nationale Sicherheitsrat, der der Regierung verbindliche Vorgaben macht, erhielt 1980 – nach dem dritten Putsch – größere Kompetenzen, und sein Generalsekretariat wurde mit geheimen Erlassen zu einer faktischen Gegenregierung ausgebaut.

Wahlkampf in der Türkei; Foto: AP
Wem gehört die Republik? Ein Fahnenmeer aus türkischen Nationaflaggen und AKP-Flaggen: Die Anhänger der AK-Partei zeigen sich republikanisch-patriotisch.

​​ Überraschenderweise lässt sich diese wohl einzigartige Stellung eines Militärapparates in einer Demokratie durch den Umstand, dass alle anderen Staatsgewalten einer Überwachung durch das Militär unterworfen sind, nicht ausreichend erklären. Vielmehr beruht dieser Sonderstatus darauf, dass die Akzeptanz der türkischen Streitkräfte als integraler Bestandteil der politischen Kultur im öffentlichen Bewusstsein der Türkei historisch fest verankert ist.

Anders als in den anderen westlichen Demokratien wird die Rolle des Militärs in der Türkei weitgehend positiv gesehen, und die Militäreliten genießen in der Bevölkerung einen geradezu unantastbaren Ruf, aus dem sie ihre Legitimation als die eigentlichen Hüter der Republik nähren.

Hohes Ansehen der "Hüter der Republik"

Aktuelle Umfragewerte bestätigen das hohe Ansehen der Armee, die als die vertrauenswürdigste Institution des Landes gilt. Das hat sicherlich auch mit dem Gründungsmythos der Republik und mit der ruhmreichen Geschichte der türkischen Streitkräfte zu tun: Vom legendären Befreiungskampf der Jahre 1919 bis 1922 und der Invasion auf Zypern 1974, bis zum andauenden Kampf gegen die kurdische Separatistenorganisation PKK – das Militär avancierte zur einzigen Institution im Land, die maßgeblich zum Nationalstolz der Türken beigetragen hat.

Auch Atatürk, Vaterfigur der modernen Türkei, wird von den meisten Türken verehrt, weil er dem Land den Absturz in ein koloniales Regime, wie es den arabischen Nachbarn infolge des Sykes-Picot-Abkommens vom 16. Mai 1916 zuteil wurde, erspart hat.

Hinzu kommt, dass die besondere Rolle des Militärs als Instrument der Durchsetzung der laizistischen Reformen und Modernisierungsschübe von oben, auf denen Atatürk seinen gesamten Staat aufbaute, unbestreitbare Legitimation verleiht: Das türkische Militär war nämlich die einzige Kraft, welche das fehlende Bürgertum in der türkischen Gesellschaft ersetzen konnte – und sie bildete die Machtsäule, auf die sich die anderen Staatsapparate stützten.

Zahlreiche Interventionen und Putsche

Foto: AP
Der politischen Differenzen zum Trotz: Der türkische Militärrat tagt mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan

​​ Dieses Selbstverständnis führte fast zwangsläufig dazu, dass die türkischen Streitkräfte sich berufen fühlten, in die Politik des Landes einzugreifen, wenn sie glauben, "ihr Staat" sei bedroht. Dafür gibt es Beispiele zur Genüge: Neben den offenen Interventionen in den Jahren 1960, 1971, 1980 sowie dem "weichen Putsch" vom April 1997 versuchten die Generäle im wahrscheinlich ersten "Internetputsch" der Geschichte am 27. April 2007 vergeblich die Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten zu verhindern.

Dennoch: Die Rolle der türkischen Streitkräfte unterscheidet sich grundlegend vom arabischen Militarismus. Ihre größte Besonderheit liegt darin, dass sie die Errichtung einer Militärdiktatur wie in allen nahöstlichen Nachbachstaaten – mit Ausnahme des demokratischen Israels – nie angestrebt haben. Arabische Armeen und das Militär der "göttlichen Republik" Irans fungieren weitgehend als Garanten bestehender Diktaturen und Instrumente ihrer repressiven Machtbewahrung.

Die Notwendigkeit einer neuen zivilen Verfassung

Da in der aus den 1980er-Jahren stammenden Verfassung der Konflikt um Kompetenzen und Macht zwischen türkischem Militär und Regierung bereits angelegt ist, müsste bald eine neue zivile Verfassung erarbeitet werden.

Ohnehin wird die Armeeführung im Zuge der Angleichung an EU-Standards auf einen erheblichen Teil ihrer Macht verzichten müssen. Dies im Einvernehmen mit der Armeeführung zu bewerkstelligen, dürfte sich als eine große Herausforderung erweisen – nicht nur für die postislamischen AKP-Aufsteiger, sondern auch für neuen Generalstabchef İlker Başbuğ.

Loay Mudhoon

© Qantara.de 2008

Dieser Artikel wurde zuvor in Kulturaustausch – Zeitschrift für internationale Perspektiven publiziert.

Qantara.de

Machtkampf in der Türkei
Keine Angst vor Islamisierung
Der klare Sieg der regierenden „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) widerlegt den Gegensatz zwischen Islam und Säkularismus – und ist vor allem Ausdruck eines sozialen Wandels in der türkischen Gesellschaft. Ein Essay von Loay Mudhoon.

Kulturpolitik in der Türkei
Kontinuität und Bruch
Die Vielzahl der auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten Literatur zeigt auch die Widersprüche der modernen türkischen Gesellschaft auf. Ömer Erzeren mit einem Essay über türkische Literatur und Kulturproduktion zwischen Kemalismus und religiös-konservativer AKP

Gastland Türkei auf der Frankfurter Buchmesse
Auftritt im Zeichen des Kulturkampfs
Der Machtkampf zwischen Laizisten und Islamisten am Bosporus hat auch die Kulturszene erreicht und wirft seine Schatten auf die Buchmesse in Frankfurt: Aus Protest gegen die AKP-Regierung will jetzt eine Gruppe türkischer Autoren die Buchmesse boykottieren. Von Susanne Güsten

Kein AKP-Verbot
Die Türkei atmet auf
Die Überraschung ist perfekt: Das türkische Verfassungsgericht lehnt den AKP-Verbotsantrag ab. Ministerpräsident Erdogan hat damit eine zweite Chance bekommen, den Machtkampf zwischen Säkularisten und der islamisch-konservativen AKP beizulegen. Dilek Zaptçıoğlu kommentiert.