Das Trauma des Regimes

Der Volksaufstand von 2011 wirkt bis heute nach: Die ägyptische Regierung beschneidet den Spielraum der Opposition immer weiter. Von Christian Meier

Von Christian Meier

Große Illusionen über seine Lage macht Hossam Bahgat sich nicht. „Ich vermute, sie sind einfach noch nicht bei meinem Anfangsbuchstaben angekommen“, lautet seine lakonisch vorgetragene Erklärung für die Tatsache, dass er sich nach wie vor auf freiem Fuß befindet.

Seit mehr als vier Jahren führen die ägyptischen Behörden Ermittlungen gegen den Gründer der „Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte“ (EIPR), eine der bekanntesten Menschenrechtsgruppen in dem Land.

Im vergangenen Jahr wurden sämtliche Vermögenswerte Bahgats wie auch der Organisation eingefroren – im Rahmen staatlicher Ermittlungen gegen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Mehrere prominente Demokratieaktivisten wurden seither formal angeklagt. Bahgat ist bislang verschont geblieben, aber das sei, wie er sagt, eben nur eine Frage der Zeit.

Sein Pass wurde ihm schon entzogen, so dass er Ägypten nicht verlassen kann. „Also genieße ich eben das kulturelle Leben hier“, sagt der 39 Jahre alte Menschenrechtsaktivist und Journalist.

Ende September hat Bahgat beispielsweise das Konzert der bekannten libanesischen Band Mashrou’ Leila in Kairo besucht. Der Abend löste eine Verhaftungswelle aus: Nachdem im Publikum eine Regenbogenfahne geschwenkt worden war, ein Symbol der Schwulen- und Lesbenbewegung, nahmen die Sicherheitsbehörden in den folgenden Wochen Menschenrechtlern zufolge landesweit mehr als 70 Menschen fest. Ihnen werden Delikte wie „Anstiftung zu Ausschweifungen“ zur Last gelegt, ägyptische Medien kolportierten angebliche Verbindungen mit ausländischen Organisationen.

Laut Human Rights Watch wurden schon mindestens zehn Menschen zu Haftstrafen zwischen einem und sechs Jahren verurteilt. Zudem wird im ägyptischen Parlament nun über einen Gesetzesentwurf debattiert, der Strafen von einem bis drei Jahren Gefängnis für gleichgeschlechtlichen Sex vorsieht. Auch das Zeigen von „Symbolen von Homosexuellen“ werde unter Strafe gestellt.

Bei einem Konzert der libanesischen Popgruppe "Mashrou' Leila" in Kairo wird die Regenbogenflagge geschwenk. Foto: Picture Alliance / dpa
Rigide Moralpolitik: Die ägyptischen Behörden gehen seit Monaten besonders hart gegen Künstler vor, die in ihren Augen gegen Moralgesetze verstoßen. Ausgelöst wurde die jüngste Verhaftungswelle, die insgesamt mehr als 50 Menschen hinter Gitter brachte, durch ein Konzert der libanesischen Band Mashrou Leila in Kairo. Nachdem im Publikum eine Regenbogenfahne geschwenkt worden war, nahmen die Sicherheitsbehörden in den folgenden Wochen Menschenrechtlern zufolge landesweit mehr als 70 Menschen fest.

Einschränkung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen

Die Botschaft ist die gleiche wie im Fall Bahgats: Mit Unterstützung aus dem Ausland, so die Unterstellung der Regierung und ihr nahestehender Medien, versuchten bestimmte Gruppen, Staat und Gesellschaft zu destabilisieren.

Vor diesem Hintergrund wurde im Sommer ein Gesetz in Kraft gesetzt, das lokale Nichtregierungsorganisationen in ihrer Arbeit stark beschränkt. So bedürfen finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland der Zustimmung durch eine neugeschaffene Behörde, und NGOs dürfen nicht mehr politisch tätig sein.

Auch müssen sich sämtliche Organisationen aufwendig registrieren und unterliegen ständiger staatlicher Kontrolle. Das Gesetz hat sogar die ausdrückliche Kritik der Vereinigten Staaten hervorgerufen, die ein Verbündeter des Regimes von Abd al Fattah al Sisi sind, seit dieser im Sommer 2013 den islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi stürzte.

Auch die Vorwürfe, deren sich Hossam Bahgat erwehren muss, betreffen die angeblich illegale Finanzierung der EIPR aus dem Ausland und die Gefährdung der nationalen Sicherheit. Nur dass die Anschuldigungen gegen seine und eine Reihe weiterer Organisationen schon aus dem Jahr 2011 stammen. Es handelt sich um denselben Fall, der 2013 zur Verurteilung von 43 Mitarbeitern der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung und weiterer internationaler Organisationen führte. Jetzt sind die lokalen NGOs an der Reihe.

Zivilgesellschaft unter Druck

Bahgat nennt das Vorgehen gegen Regimekritiker „effizient und effektiv“ – vor allem weil die Behörden in der Regel von spektakulären Einzelmaßnahmen absähen: „Daher gibt es keinen großen Aufschrei, keine riesigen Schlagzeilen.“ Es seien kleine, aber kontinuierliche Maßnahmen, die die ägyptische Zivilgesellschaft unter Druck setzten. Die Folge sei, dass viele Organisationen ihr Personal und ihre Aktivitäten reduziert hätten. Die EIPR habe 2012 mehr als 50 Mitarbeiter gehabt. Heute seien es weniger als 20.

Dennoch glaubt der Menschenrechtsaktivist, dass das Regime in der Defensive sei – zumindest was die öffentliche Wahrnehmung betrifft. „Das Ausmaß des Missbrauchs ist einfach zu groß, als dass man ihn verbergen könnte.“ Durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die auch die „Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte“ vornimmt, würden die NGOs immer noch das Bild Ägyptens im Ausland mitbestimmen. „Das ist etwas, was die Behörden wahnsinnig macht“, sagt Bahgat. Und insbesondere den Staatschef: Der sei überrascht, „dass die Welt immer noch über die Diktatur in Ägypten redet“.

Tatsächlich muss der Ägypter gegenüber seinen westlichen Verbündeten immer wieder die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten im Land rechtfertigen. So sprach der französische Präsident Emmanuel Macron das neue NGO-Gesetz sowie die Menschenrechtslage in Ägypten an, als er Sisi Ende Oktober in Paris empfing. Dieser erwiderte bei einer Pressekonferenz auf die Frage eines Journalisten zu Foltervorwürfen, es gebe „Gruppen mit extremer Ideologie, die unzutreffende Informationen über das veröffentlichen, was in Ägypten passiert“.Schwere und systematische Folter

Frage und Antwort bezogen sich auf einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die im September ausführlich über Folterpraktiken in Ägyptens Sicherheitsdiensten berichtet hatte. Die Polizei und der Geheimdienst „wenden während ihrer Untersuchungen regelmäßig Folter an, um vermeintliche Dissidenten zu einem Geständnis oder zur Preisgabe von Informationen zu zwingen oder um sie zu bestrafen“, heißt es darin. Die Misshandlungen seien Teil eines Prozesses, in dem echte und vermeintliche Regimekritiker mit Hilfe fabrizierter Anschuldigungen und unter Missachtung ihrer Rechte verurteilt würden.

Journalist und Menschenrechtsaktivist Hussam Bahgat
Angst vor einem neuen Aufstand: Nach der Einschätzung Hossam Bahgats ist die Menschenrechtslage im Land heute „deutlich schlimmer als unter Husni Mubarak“. Zur Erklärung verweist er auf ein allgemeines Trauma, das die ägyptische Gesellschaft durch die aufwühlenden Geschehnisse der Arabellion in ihrem Land erlitten habe.

Allein die „Ägyptische Koordinierung für Rechte und Freiheiten“, eine lokale NGO, berichtete im Jahr 2016 von 830 an sie herangetragenen Beschwerden über Folter in Haft. Die Folterpraktiken umfassen laut Human Rights Watch regelmäßig Elektroschocks, Schläge mit Stöcken und Eisenstangen sowie erzwungene schmerzvolle Körperhaltungen.

Aber auch noch drastischere Maßnahmen würden ergriffen. Auch das amerikanische Außenministerium zählte in seinem Bericht über die Menschenrechtslage in Ägypten 2016 zahlreiche Fälle von Folter, Tötungen, „erzwungenem Verschwindenlassen“ und weiteren Menschenrechtsverletzungen auf. Im August entschied Washington, die Hilfe für seinen Verbündeten um knapp hundert Millionen Dollar zu kürzen – wobei auch Kairos gutes Verhältnis zu Nordkorea eine Rolle spielte. Präsident Donald Trump hatte noch im April gesagt, Sisi mache einen „phantastischen Job“.

„Kampf gegen den Terror“ als Vorwand für Repression

Das ägyptische Regime bettet die „harte Hand“, mit der das Land regiert wird, in eine andere Erzählung ein: die von dem Kampf gegen die gewalttätigen Islamisten, der bestimmte Maßnahmen unumgänglich mache. Ein Teil der Muslimbruderschaft, die nach Mursis Sturz 2013 verboten wurde, ging in den Untergrund. Zudem verüben auf der Sinai-Halbinsel Aufständische, die mit der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verbündet sind, regelmäßig Anschläge auf Sicherheitskräfte. Laut den Berichten lokaler Journalisten gerät die Lage dort immer mehr außer Kontrolle. Auch Macron verwies darauf, als er sagte, Sisi habe „eine Herausforderung: die Stabilität seines Landes, der Kampf gegen Terrorbewegungen, der Kampf gegen einen gewaltsamen religiösen Fundamentalismus“.

Nach der Einschätzung Hossam Bahgats ist die Menschenrechtslage im Land heute „deutlich schlimmer als unter Husni Mubarak“. Zur Erklärung verweist er auf ein allgemeines Trauma, das die ägyptische Gesellschaft durch die aufwühlenden Geschehnisse der Arabellion in ihrem Land erlitten habe. „Das Regime leidet unter einem ähnlichen Trauma“, glaubt Bahgat.

Die Mächtigen, die von der Wucht der Volkserhebung 2011 völlig überrascht wurden, seien fest davon überzeugt, dass etwas Vergleichbares wieder passieren könnte, wenn sie der Opposition auch nur ein klein wenig Raum gäben. Mubarak machen sie den Vorwurf, zuletzt zu nachgiebig gewesen zu sein.

Das Trauma führt, folgt man Bahgats Erklärung, jedoch auch zu inneren Zerwürfnissen. Anders als unter Mubarak, der das Land fast 30 Jahre lang regierte, gebe es heute mehrere Machtzentren im Regime. Die Sicherheitsdienste etwa seien alle dem Präsidenten gegenüber loyal, stünden aber in Konkurrenz zueinander. So kommt es immer wieder zu „Pannen“: wie der Ermordung des italienischen Doktoranden Giulio Regeni mutmaßlich durch Sicherheitskräfte am 3. Februar 2016.

Sisi selbst steht demnach zwar unangefochten über den Machtzentren. Aber das Bewusstsein dafür, dass es dem Präsidenten bislang nicht gelungen ist, seine zahlreichen Versprechen zu verwirklichen, ist auch in der Machtelite vorhanden. In der Bevölkerung hat Sisis anfangs immense Popularität gelitten, insbesondere seit die Abwertung des Pfunds im November 2016 zu einer Inflation von mehr als 30 Prozent geführt hat.

Der Druck auf den Präsidenten wird in den kommenden Monaten zunehmen: Im Frühsommer 2018 endet seine Amtszeit. Am vergangenen Mittwoch kündigte er an, im Januar Rechenschaft abzulegen – dann solle „das ägyptische Volk“ entscheiden, ob er abermals antreten solle. Zugleich hob er die Bedeutung des Kampfs gegen den IS hervor und verwies auf die Krisen in Syrien und im Irak – und brachte damit ein Argument vor, das in den Augen vieler Ägypter der wichtigste Grund für eine abermalige Wahl Sisis sein könnte: Nur er könne für ein stabiles Ägypten garantieren.

Christian Meier

© FAZ 2017