Wenn die Saat der Extremisten aufgeht

Noch bis vor Kurzem genossen Rechtsextreme keinerlei Prestige. Nicht zuletzt weil sie Erinnerungen an die Schrecken der Nazis wachriefen. Doch heute sind sie in der Mitte der Gesellschaften angekommen, bestechen durch aalglatte Radio- und Fernsehauftritte und sind geschickte Nutzer sozialer Medien. Von Ian Buruma

Essay von Ian Buruma

Vielen Rechtspopulisten gemein ist eine merkwürdige Form des Selbstmitleids: das Gefühl, Opfer der liberalen Medien, Wissenschaftler, Intellektuellen und „Experten“ – kurz gesagt, der so genannten Eliten – zu sein. Die liberalen Eliten, so lamentieren die Populisten, beherrschen die Welt und dominieren die normale, patriotische Bevölkerung mit hochmütig-geringschätzendem Gehabe.

Dies ist in vieler Hinsicht eine altmodische Ansicht. Liberale oder Linke dominieren heute in der Politik nicht mehr. Und die großen, links der Mitte angesiedelten Zeitungen wie die New York Times haben ihren früheren Einfluss längst an Radio-Talkshows, rechtsgerichtete Kabelfernsehsender, die Boulevardpresse (die in der Englisch sprechenden Welt weitgehend Rupert Murdoch gehört) und die sozialen Medien verloren.

Einfluss jedoch ist nicht dasselbe wie Prestige. Die großen Zeitungen genießen noch immer einen höheren Status als die Massenpresse, genau wie die großen Universitäten das im Bereich der höheren Bildung tun. Sun oder Bild haben nicht das Ansehen der Financial Times oder der Frankfurter Allgemeine Zeitung, und die religiösen Colleges in den ländlichen Teilen der USA können rufmäßig nicht mit Harvard oder Yale mithalten.

Sozialer Status weckt in unserer populistischen Zeit mehr Neid und Ressentiments als Geld oder Ruhm. US-Präsident Donald Trump etwa ist ein sehr reicher Mann und war viel berühmter als alle seine Mitbewerber um die Präsidentschaft, einschließlich Hillary Clinton. Und doch scheint er eine nahezu permanente Wut gegenüber Menschen zu empfinden, die größeres intellektuelles oder soziales Prestige aufweisen als er selbst. Die Tatsache, dass er diese Ressentiments mit Millionen von Menschen teilt, die deutlich weniger privilegiert sind als er selbst, erklärt zu einem großen Teil seinen politischen Erfolg.

Ian Buruma; Foto: Merlijn Doomernik/Quelle: ianburuma.com
From 2003 to 2017 Buruma was Luce Professor of Democracy, Human Rights & Journalism at Bard College, New York. In May 2017, he was named editor of The New York Review of Books and took over the position in September 2017 (as successor to founding editor Robert B. Silvers, who held the position until his death in March 2017). He has won several prizes for his books, including the Los Angeles Times Book Prize and the PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay for "Theater of Cruelty"

Bis vor kurzem genossen Rechtsextreme keinerlei Prestige. Diese durch die kollektiven Erinnerungen an die Schrecken der Nazis und Faschisten an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Männer (Frauen waren kaum dabei) hatten das schäbige Auftreten von Pornokino-Besuchern mittleren Alters. Stephen Bannon, noch immer ein überaus einflussreiche Figur in Trumps Welt, kommt ein wenig so rüber: als reizbarer Sonderling im schmutzigen Regenmantel.

Vom dumpfen Nazi zum smarten faschistischen Dandy

Doch es hat sich eine Menge geändert. Jüngere Rechtsextremisten insbesondere in Europa tragen häufig elegante Maßanzüge und erinnern an die faschistischen Dandys im Frankreich und Italien der Vorkriegszeit. Sie schreien nicht auf zusammengerottete Menschenmassen ein, sondern bestechen durch aalglatte Radio- und Fernsehauftritte und sind geschickte Nutzer sozialer Medien. Einige haben sogar einen Sinn für Humor.

Diese Rechten neuen Typs sind beinahe "salonfähig": respektabel genug, um sich in gehobenen Kreisen zu bewegen. Offener Rassismus wird gedämpft; ihre Bigotterie verbirgt sich unter einer Menge smarter Sprüche. Sie lechzen nach Prestige.

Ich hatte kürzlich auf einer vom Hannah Arendt Center am Bard College in den USA ausgerichteten wissenschaftlichen Konferenz Gelegenheit, einen typischen Ideologen dieses Typs zu treffen. Es ging bei dieser Konferenz um Populismus, und dieser Ideologe hieß Marc Jongen und war ein Politiker der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) und Doktor der Philosophie. Jongen ist Sohn eines holländischen Vaters und einer italienischen Mutter, wurde in Italien (im deutschsprachigen Südtirol) geboren und spricht nahezu perfekt Englisch.

Rundumschlag gegen Merkels Flüchtlingspolitik

Das Selbstmitleid lag bei ihm knapp unter der Oberfläche. Jongen beschrieb Bundeskanzlerin Angela Merkels Entscheidung, einer großen Zahl von Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten Schutz zu gewähren, als "Akt der Gewalt" gegenüber dem deutschen Volk. Er bezeichnete Einwanderer und Flüchtlinge als Kriminelle und Vergewaltiger (obwohl die Verbrechensraten bei Flüchtlingen in Deutschland deutlich niedriger liegen als unter Einheimischen). Der Islam, so Jongen, beraube das deutsche Volk seiner wahren Identität. Männer wie er selbst würden ständig als Nazis bezeichnet usw. usf.

Ich wurde gebeten, einige Gegenargumente vorzutragen. Ich habe Jongen nicht als Nazi bezeichnet, tat jedoch mein Möglichstes, deutlich zu machen, warum ich seine Behauptungen für falsch und gefährlich hielt. Wir gaben uns am Ende die Hand. Und das war, was mich betraf, das Ende der Geschichte.

Anschließend brach ein kleiner akademischer Sturm los. Mehr als 50 renommierte US-Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Hannah Arendt Center, Jongen als Gastredner einzuladen. Der Punkt dabei war nicht, dass er nicht das Recht habe, seine Meinungen zum Ausdruck zu bringen, sondern dass das Bard College nicht sein Prestige dazu hätte hergeben dürfen, den Sprecher respektabel erscheinen zu lassen. Ihn einzuladen ließe seine Ansichten legitim erscheinen.

Ein taktischer Fehler

Dies erscheint mir aus mehreren Gründen fehlgeleitet. Zunächst einmal ist es, wenn man eine Konferenz zum Thema Rechtspopulismus ausrichtet, doch sicher nützlich, sich anzuhören, was ein Rechtspopulist tatsächlich zu sagen hat. Professoren dabei zuzuhören, wie sie Ideen verdammen, ohne diese Ideen tatsächlich selbst zu hören, wäre nicht besonders lehrreich.

Auch ist es nicht offensichtlich, warum ein Sprecher einer wichtigen Oppositionspartei eines demokratischen Landes als Gastredner auf einem Hochschulcampus inakzeptabel sein sollte. Linke Revolutionäre waren einst ein elementarer Bestandteil des Hochschullebens, und Bemühungen, sie von dort zu verbannen, wären zu Recht auf Widerstand gestoßen.

Der Protest gegen die Einladung an Jongen war nicht nur intellektuell inkohärent; er war zugleich taktisch dumm, denn er bestätigt den Glauben der Rechtsextremen, dass die Liberalen die Feinde der Redefreiheit und dass Rechtspopulisten die Opfer liberaler Intoleranz seien. Ich glaube, dass Jongen die Konferenz am Bard College höflich diskreditiert verlassen hat. Aufgrund des Protests war er in der Lage, diese Niederlage in einen Erfolg umzuwandeln.

Ian Buruma

© Project Syndicate 2017

Aus dem Englischen von Jan Doolan