Die Gelbwesten von Bagdad

Das, was derzeit in Bagdad und im Süden des Landes geschieht, ist eine Revolte von zumeist jungen Irakern gegen ihre politische Führung. Es ist kein Terror. Vergleichbar sind die Unruhen mit den Gelbwestenprotesten in Frankreich, die den Irakern als Vorbild dienen. Von Birgit Svensson aus Bagdad

Von Birgit Svensson

Genau wie die Demonstranten in Frankreich, so gehen derzeit auch die die Menschen im Irak gegen soziale Missstände, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Benachteiligung und Perspektivlosigkeit auf die Straßen.

Allerdings sind die Proteste im Irak ungemein blutiger als in Frankreich. Seit die Revolte begann, sind über 100 Menschen getötet und bis zu 4.000 teils schwer verletzt worden. Die Sicherheitskräfte gehen mit rücksichtsloser Härte vor, setzen Tränengas und scharfe Munition ein. Es soll Scharfschützen geben, die gezielt auf Demonstranten schießen. Polizei und Armee sind für Anti-Terror-Einsätze ausgebildet. Wie man mit unbewaffneten Protestierern umgeht, haben sie nicht gelernt.

Im Zentrum der Rebellion

Kernpunkt der Unruhen in Bagdad ist der Tahrir-Platz, wo seit 2014 immer wieder Demonstrationen stattfinden. Meistens freitags. In den letzten Wochen sah man dort vor allem Studenten und Studentinnen, die gegen schlechte Studienverhältnisse, mangelnde soziale Absicherung und eine allgemeine Vernachlässigung der Bildung protestierten. Hinzu kam die Forderung nach mehr Jobs für Studienabgänger, was dann zur Eskalation führte. Gleichwohl ist die Revolte spontan entstanden, ohne Führung und Strategie.

Proteste in Bagdad; Foto: picture-alliance/AP
"Wir sind alle Abdel-Wahab al-Saadi": Mit ein Grund für das Aufflammen der Proteste war auch die umstrittene Versetzung des bisherigen Vizechefs der irakischen Antiterroreinheiten, der eine wichtige Figur im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) war.

Allerdings hört man immer wieder, dass die Absetzung eines beliebten Generals auch ein Grund für das Entfachen der Proteste war: Abdel-Wahab al-Saadi, bislang Vizechef der irakischen Antiterroreinheiten und eine wichtige Figur im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS), wurde auf einen anderen Posten versetzt. Seine Anhänger glauben, er sei geschasst worden, weil er dem Einfluss der Iran nahestehenden schiitischen Milizen in die irakische Armee im Wege stand.

Das Konterfei des Generals war in der letzten Woche immer wieder auf Protestplakaten zu sehen - ein Anzeichen dafür, dass die Proteste sich teilweise auch gegen den iranischen Einfluss im Irak richten. Doch dies scheint bei näherem Betrachten nicht ausschlaggebend zu sein.

Nun gilt die Frage, wie die irakische Regierung diesen Protesten begegnet. Probleme werden in dem Land zwischen Euphrat und Tigris zumeist gewalttätig geregelt. Eine Deeskalationsstrategie wie bei den Sicherheitskräften in Europa, gibt es im Irak nicht.

Politische Blockade

Außerdem ist die Wut der Demonstranten in Bagdad ungleich größer als in Frankreich, weil die Regierung seit Jahren Reformen und einen verstärkten Kampf gegen die Korruption verspricht, ohne dass sich die Lage bessert. Die großen politischen Blöcke im Parlament blockieren sich gegenseitig. Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi erkannte die Forderungen der Demonstranten in einer TV-Ansprache als berechtigt an. Die Regierung sei um eine Lösung bemüht, doch gäbe es "keine Zauberformel", sagte er. Zugleich kündigte er Hilfe für benachteiligte Familien an.

[embed:render:embedded:node:37499]Das klingt für viele Iraker wie Hohn und Spott. "Der ist doch selbst korrupt", hört man die Menschen auf Bagdads Straßen sagen, "wie soll der dann die Korruption bekämpfen?" Das sei doch der Grund, warum er seit über einem Jahr nichts getan hat.

Der einflussreiche schiitische Geistliche Muktada al-Sadr, der sich schon seit Jahren an die Spitze der Demonstrationsbewegung gesetzt hat, fordert den Rücktritt Mahdis und dessen Kabinett. Sein Block hatte bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr die meisten Sitze im Parlament gewonnen und die Regierung bislang unterstützt. Sadr rief seine Abgeordneten auf, das Parlament zu boykottieren, bis die Regierung ein Programm vorlege, das vom Volk akzeptiert werde.

Keine interkonfessionelle Auseinandersetzung

Die aktuellen Proteste finden bislang in mehrheitlich schiitischen Städten des Irak statt, wie schon im Vorjahr in Basra und anderen südlichen Provinzen. Sunniten und Kurden spielen dabei keine erkennbare Rolle, ebenso wenig wie interkonfessionelle Auseinandersetzungen. Da die sunnitischen und kurdischen Regionen im Norden des Landes mehrheitlich in Trümmern liegen, sind von dort kaum Proteste zu erwarten.

Doch in den sozialen Medien stellt man fest, dass gerade aus Mossul, Kirkuk und anderen Nordprovinzen Solidaritätsbekundungen mit den jungen Demonstranten in Bagdad die Runde machen. Sie werden angespornt, mit ihren Forderungen nicht nachzulassen. Dieser Konflikt spielt sich also innerhalb der schiitischen Bevölkerungsmehrheit ab, in der es sowohl pro- wie anti-iranische Strömungen gibt.

Auf Protestplakaten sind durchaus auch viele anti-iranische Parolen zu lesen, doch bisher überwiegen soziale Motive wie Armut, Korruption und Misswirtschaft. Unterschiedliche Darstellungen gibt es zu der Frage, ob auch der Iran in die Proteste involviert ist. So existieren Medienberichte, denen zufolge irakische Sicherheitskräfte, die gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen sind, die iranische Landessprache Farsi gesprochen haben sollen. Beweise gibt es dafür jedoch nicht und Verschwörungstheorien sind im Irak beliebter als anderswo in der Region.

Inzwischen ist die Ausgangssperre wieder aufgehoben, die Leute können zur Arbeit fahren. Fünf Tage lang stand Bagdad buchstäblich still. Man konnte sich nur zu Fuß fortbewegen.

Birgit Svensson

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