Die Risiken für die Demokratie

Soll die Bevölkerung Tunesiens in Freiheit und Würde leben, muss das politische und wirtschaftliche Modell des Landes geändert werden, meint Jake Walles in seiner Analyse.

Von Jake Walles

Tunesien wird weithin als die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings dargestellt. In der Tat sind die demokratischen Errungenschaften des Landes lobenswert: 2011, 2014 und 2019 fanden dort freie und faire Wahlen statt, und 2014 hat das Land mit einer neuen demokratischen Verfassung grundlegende Rechte festgelegt.

Zwischen 2012 und 2015 konnte Tunesien erhebliche Gefahren für die Sicherheit abwenden. Und im Gegensatz zu den anderen Ländern in der Region, in denen es zwischen 2010 und 2011 Volksaufstände gab – also Ägypten, Syrien, Libyen und Jemen – ist Tunesien das einzige Land, das daraus als funktionsfähige Demokratie hervorgehen konnte.

Heute allerdings wirkt Tunesien ziellos und scheint nicht in der Lage zu sein, ökonomische oder politische Fortschritte zu machen. Seit Jahren hängt die Wirtschaft mit schwachen Wachstumszahlen und einer hohen Arbeitslosigkeit fest. Und das politische System war bis jetzt unfähig, die Ergebnisse der Parlamentswahlen von 2019 effektiv politisch umzusetzen. Auch wenn die Demokratie von der Öffentlichkeit nach wie vor stark unterstützt wird, ist der demokratische Wandel durch den mangelnden politischen und wirtschaftlichen Fortschritt erheblich gefährdet. Will Tunesien wieder auf einen sicheren Pfad kommen, muss sich das Land weiterhin bemühen, diese Schwächen zu überwinden.

"Freiheit und Würde"

Allgemein beschreiben die Tunesier die grundlegenden Ziele der Aufstände von 2011 mit den Begriffen "Freiheit und Würde". Beim Ziel der "Freiheit" wurden einige Fortschritte gemacht: Politische Parteien aller Richtungen stehen bei den Wahlen in freiem Wettbewerb zueinander, die Presse agiert weitgehend ohne Behinderung, und es gibt eine lebendige Zivilgesellschaft, die den politischen Prozess kontrolliert.

Tunesierin während einer Demonstration zum Tag der tunesischen Frauen in Tunis am 13. August 2018; Foto: AFP/Getty Images/Fethi Belaid
Schleppender demokratischer Wandel: Trotz der seit 2011 eingeleiteten demokratischen Reformen kämpft Tunesien mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Unruhen. Das nordafrikanische Land steht unter dem Druck internationaler Kreditgeber, drastische Maßnahmen zur Wiederbelebung seiner Wirtschaft zu ergreifen. Deutschland zählt zu einem der wichtigsten Geberländer für die junge tunesische Demokratie.

Doch was die "Würde" betrifft, äußern sich die meisten Bürger enttäuscht darüber, was bislang erreicht worden ist. Die Suche nach Würde hat zwar viele Facetten, aber ein Schlüssel dafür ist die Fähigkeit, über die nötigen materiellen Ressourcen zu verfügen, um auf würdevolle Art leben zu können – also zu heiraten, ein Haus zu besitzen und Kinder großzuziehen. Aber die Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Möglichkeiten, die für ein solches Leben nötig sind, konnte die tunesische Wirtschaft vielen Menschen bislang nicht bieten – insbesondere jenen im verarmten Landesinneren.

Um diese Lage zu verbessern, muss das tunesische Wirtschaftsmodell erheblich verändert werden. Dabei ist es entscheidend, die grassierende systemimmanente Korruption zu bekämpfen. Dies war bereits bei den letzten Wahlen ein wichtiges Thema, doch die bisherigen Bemühungen reichen wohl nicht aus: Das Umfeld für die Gründung oder Leitung eines privaten Unternehmens ist immer noch viel zu restriktiv. Also muss die nächste Regierung das Netz der Regulierungen ausmisten, die den privaten Sektor lähmen und die Korruption fördern. Und zusätzlich sollte sie Anreize für die Unternehmer schaffen, sich über den traditionellen Exportsektor und -markt hinaus zu bewegen.

Auch muss Tunesien mehr tun, um seine gut ausgebildeten Arbeitskräfte und seinen erstklassigen Standort zwischen Europa und Afrika dazu zu nutzen, den Umfang und Wert seiner Exporte zu steigern.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2019 erbrachten ein ungewöhnliches Ergebnis: Mit Kais Saied haben sie einen Präsidenten ins Amt befördert, der bislang ohne Regierungserfahrung war und über keine organisierte politische Basis verfügt – abgesehen von einem zerfaserten Parlament, das nicht in der Lage ist, sich auf die Zusammensetzung einer neuen Regierung zu einigen.

Anfang Januar wurde das vorgeschlagene Kabinett des künftigen Ministerpräsidenten Habib Jemli vom Parlament mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Sa‘id hat jetzt Elias Fakhfakh, einen ehemaligen Finanzminister, zum Ministerpräsidenten ernannt. Er hat einen Monat Zeit, um eine Regierung zu bilden. Scheitert auch er, muss neu gewählt werden.

Der Niedergang von Nidaa Tounes

Nach den vorherigen Wahlen von 2014 waren in Tunesien die Anfänge eines Zweiparteiensystems erkennbar. Das damals gewählte Parlament wurde von der islamistischen Ennahda unter der Leitung von Rachid Ghannouchi dominiert – und der Nidaa Tounes, die seitdem von dem inzwischen verstorbenen Präsidenten Beji Caïd Essebsi gegründet worden war.

Diese beiden größten Parteien verfügten über 155 der 217 Sitze. Allerdings begann die Nidaa Tounes im Jahr 2015, sich aufzulösen, da ihre sehr unterschiedlichen politischen Flügel – zusätzlich zu ihrer Opposition gegen die Ennadha – keine gemeinsame Ideologie hatten. Weitere Spaltungen innerhalb der Partei führten schließlich dazu, dass im nichtislamistischen Lager mehrere kleinere Parteien entstanden. 2019 bekam die Nida’ Tounes selbst nur noch 1,5 Prozent der Stimmen und verschwand somit weitgehend von der politischen Karte.

Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi während einer Sitzung im tunesischen Parlament am 13. November 2019; Foto: picture-alliance/AA/N. Talel
Gewachsener Vertrauensverlust: Die "Ennahda" unter Rachid Ghannouchi hat in den letzten Jahren viel politischen Boden verloren: Von 27,8 Prozent bei den Parlamentswahlen von 2014 ging ihr Stimmanteil bis 2019 auf 19,6 Prozent zurück.

Auch die Ennahda hat in den letzten Jahren viel politischen Boden verloren: Von 27,8 Prozent bei den Parlamentswahlen von 2014 ging ihr Stimmanteil bis 2019 auf 19,6 Prozent zurück. Und ihr Einfluss nahm weiter ab, als Jemli, ihr Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, Anfang dieses Monats eine parlamentarische Vertrauensabstimmung verlor. Neben der Ennahda wurde er nur von einer einzigen kleinen islamistischen Partei unterstützt.

Ob Fakhfakh nun eine neue Regierung bildet oder ob Neuwahlen stattfinden: Auf jeden Fall muss sich Tunesiens nächste Regierung darauf konzentrieren, den dringenden Bedarf des Landes nach wirtschaftlichen Reformen zu erfüllen. Dies wird nicht leicht, da das bislang vor allem solche Interessengruppen begünstigt wurden, die sich Veränderungen erfolgreich widersetzten.

Tunesiens Parteipolitiker müssen endlich ihre ideologischen Differenzen überwinden und sich um den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes kümmern. Beim Versuch, dies zu ermöglichen, könnte Kais Saied eine wichtige Rolle spielen. Er könnte beispielsweise Akteure aus der Regierung, der Unternehmerschaft und den Gewerkschaften um sich versammeln, die sich im Rahmen eines Dialogs auf allgemeine Prinzipien zur Förderung der Wirtschaft einigen sollen.

Das sich selbst blockierende Parlament

Außerdem muss die Führung in Tunis überlegen, wie sie das politische System reformieren kann, um zu verhindern, dass sich die Ergebnisse der Parlamentswahlen von 2019 wiederholen – als es rund 20 politische Parteien ins Parlament schafften, und zusätzlich noch einige unabhängige Listen. Nur zwei dieser Parteien – Ennahda und Nabil Qaraouis "Qalb Tounes" ("Herz Tunesiens") – bekamen mehr als sieben Prozent der Stimmen. Ganze 13 Parteien konnten mit jeweils weniger als drei Prozent ins Parlament einziehen.

Dieser Zustand ist für ein demokratisches System nicht gesund, und es wäre wohl ratsam, eine Hürde für die parlamentarische Repräsentation einzuführen. Dies würde kleinere Parteien dazu zwingen, sich zusammen zu tun, was zu einer weniger zersplitterten und besser handhabbaren Legislative führen würde. Allerdings dürfte auch dieser Schritt nicht leicht sein, da selbst kleinste Veränderungen des Wahlrechts die Zustimmung des Parlaments und aller seiner Parteien erfordern.

Tunesien hat in den neun Jahren seit dem Sturz des autoritären Regimes von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali viel erreicht, worauf das Land gewiss auch stolz sein kann. Doch soll am  demokratischen Wandel festgehalten werden, benötigt Tunesien einige ernsthafte Reformen, um die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und den politischen Handlungsprozess effektiver zu machen.

Jake Walles

© Carnegie Endowment for International Peace 2020

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff