Fragile Stabilität

Jordanien gilt als Anker der Stabilität in einer von Krisen beherrschten Region. Doch ein Jahr nach den Protesten vom Mai 2018 steht das Land wirtschaftlich und politisch vor enormen Herausforderungen. Die Kritik an schlechter Regierungsführung wächst. Aus Amman informiert Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Szenen wie diese sind alltäglich in Amman, der Hauptstadt von Jordanien. Der tägliche Nachmittagsstau, der den Verkehr komplett lahmlegt, zerrt an den Nerven. "Wir haben noch nicht einmal einen öffentlichen Nahverkehr in Amman", schimpft Mohammed, ein älterer Mann, der häufig mit seinem Auto beruflich unterwegs ist. "Die Luft ist zum Schneiden und jeden Tag verbringen wir Stunden sinnlos im Stau." Er erzählt, wie schwer es sei, die Familie zu ernähren in diesen Zeiten. "Wir finanzieren unseren Kindern die Ausbildung und dann finden sie keine Arbeit – aber wir haben ja König Abdallah", meint er bitter.

Ein Jahr nach den Protesten vom Mai 2018 ist die Frustration im Königreich mehr als greifbar. Jordanien gilt im Westen als Stabilitätsanker in einer Region im Umbruch. Zwischen dem nicht endenden Konflikt in Syrien, einem im Chaos versunkenen Irak und dem immer autoritärer regierten Ägypten wirkt das haschemitische Königreich wie ein ruhender Pol mitten im Sturm.

Krisenanker in der Flüchtlingsfrage

Zudem hat Jordanien rund 700.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, das kommt gut an im Westen. Die internationalen Geldgeber tun daher alles, um das Land zu unterstützen – in der Hoffnung, dass es weiter stabil bleibt. Auch aus Deutschland kommt sehr viel Geld ins Land. Allein das Entwicklungshilfeministerium finanzierte in 2018 Projekte in Höhe von 300 Millionen Euro; für 2019 ist die gleiche Summe vorgesehen. Die USA und die Golfstaaten geben Finanzhilfen in Milliardenhöhe.

Dennoch hat sich die Wirtschaftslage weiter verschlechtert und die Wut über soziale Ungerechtigkeit wächst. Preise für Lebensmittel, Mieten und Transport sind in den letzten Jahren explodiert. Amman ist heute die teuerste Hauptstadt der Region mit Lebenshaltungskosten auf europäischem Niveau. Die Arbeitslosenrate liegt nach Angaben der Weltbank offiziell bei 18 Prozent, real eher bei 30 Prozent und bei den unter 25-Jährigen sogar bei um die 40 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, während die schicken Cafés im Ammaner Szeneviertel Jebel Weibdeh voll sind.

Jordanische Familien investieren viel Geld in die Bildung ihrer Söhne und Töchter. Die Zahl der Universitätsabsolventen steigt stetig. Doch das Versprechen eines besseren Lebens durch mehr Bildung funktioniert nicht mehr. Denn nach ihren Abschlüssen finden die jungen Menschen keine Arbeit.

Jordaniens ehemaliger Premierminister Hani Mulki; Foto: picture-alliance/dpa
Zum Rücktritt gezwungen: Im Mai und Juni 2018 hatten tausende Jordanier bei landesweiten Protesten gegen die Sparmaßnahmen der Regierung protestiert und Hani Mulkis Rücktritt gefordert. Ihrer Rücktrittsforderung verliehen sie Nachdruck mit Parolen wie: "Das jordanische Volk wird sich nicht beugen" oder "Das Volk will den Sturz der Regierung".

Jugendarbeitslosigkeit als sozialer Sprengstoff

"Ich habe im Ausland studiert und nach meinem Abschluss viele Praktika und Projekte gemacht, aber ich finde trotzdem nichts", sagt eine junge Frau Anfang 30, "und das ist sehr frustrierend."

Die fehlenden Jobs und die Folgen für die Gesellschaft sind unser Hauptproblem, meint Asma Rashahneh, 50, und Gemeinderätin in der Stadt Madaba rund 50 km südlich der Hauptstadt. "Manche Uni-Absolventen suchen zehn Jahre lang, bis sie eine Arbeit finden."

Der Einstieg ins Arbeitsleben sei besonders schwer, weil die Unternehmen Bewerber mit Erfahrung wollten und die jungen Leute diese nicht vorweisen könnten. Da es kaum Parks oder Sportanlagen und viel zu wenig Freizeitangebote für junge Menschen gibt, hängen sie dann jahrelang einfach rum. "Die jungen Leute wissen dann nicht, was sie tun sollen und das ist sehr gefährlich", meint Rashahneh. Drogen, Alkohol und Extremismus sind allgegenwärtige Versuchungen. Eine breite salafistische Szene im Land profitiert davon.  

Das ist sozialer Sprengstoff. Es sind nicht nur die fehlenden Jobs. Die Menschen sehen, wie Posten nicht nach Qualifikation, sondern aufgrund von Beziehungen vergeben werden. Sie sehen, dass Teile der internationalen Hilfsgelder in dunklen Kanälen versickern und Klientelismus das Land durchzieht wie eine ansteckende Krankheit.

Keine Perspektive für Veränderung

Die Frustration entlud sich im Mai 2018 in den größten Protesten seit 2011, nachdem Premierminister Hani Mulki höhere Einkommensteuern angekündigt hatte und die Preise für Strom und Treibstoff erhöht wurden. Demonstranten trafen sich am 4. Kreis in Amman in der Nähe des Sitzes des Premierministers und in anderen Landesteilen mit für jordanische Verhältnisse relativ vielen Teilnehmenden.

Mulki musste gehen und König Abdallah ernannte im Juni 2018 den Weltbankexperten Omar Razzaz zu seinem Nachfolger. Danach ebbten die Demonstrationen wieder ab, es kam nur noch vereinzelt zu Protesten wie etwa einem Marsch der Arbeitslosen von Aqaba nach Amman.

Der Austausch der Regierung gilt für das Königshaus als ein probates Mittel, um dem Druck der Straße zu begegnen. Razzaz versprach einen "neuen sozialen Kontrakt" für alle Jordanier, passiert ist jedoch wenig. Die neuen Steuergesetze wurden in abgemildeter Form Ende 2018 verabschiedet.

Arabischer Frühling in Jordanien: Proteste in der Hauptstadt Amman am 21. Januar 2011; Foto: picture-alliance/dpa
Brodeln unter der Oberfläche: Amtlichen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosenrate in Jordanien bei 18,5 Prozent, ein Fünftel der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze. Vom "Arabischen Frühling" des Jahres 2011, bei dem es in mehreren Ländern der Region zu Revolten kam, war Jordanien wenig betroffen. Allerdings hatte es in dem Jahr auch in dem Königreich Proteste gegeben, als die Regierung Zuschüsse für Benzin strich.

Die Demonstrationen waren ein Einschnitt im sonst eher unpolitischen Königreich, meint die Journalistin Rana Sabbagh. "Die Menschen wollten wissen, was sie für ihre Steuern bekommen", sagt sie. "Bildungs- und Gesundheitswesen sind sehr schlecht, Straßen und Infrastruktur miserabel. Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir nichts bekommen?"

Die jordanische Mittelschicht demonstrierte. Die Muslimbrüder konnten die Proteste nicht für ihre Zwecke vereinnahmen. Ein Aktivist, der dabei war, sagt heute: "Ich erinnere mich gerne an die Volksfeststimmung während der Proteste und das Gefühl der Verbundenheit unter uns Demonstranten. Aber erreicht haben wir nichts. Unsere Frustration ist geblieben."

Dauernd würde den Jordaniern erzählt, sie sollten froh sein, nicht in Syrien oder in Ägypten zu leben. "Natürlich wollen wir keine Situation wie in diesen Ländern", sagt er. "Aber wir brauchen eine Perspektive, dass sich hier etwas ändert und die haben wir nicht."

Auch die Journalistin Rana Sabbagh kann den Vergleich mit Syrien und Ägypten nicht mehr hören. "Jordanier empfinden diesen Vergleich, der auch im Westen beliebt ist, als unpassend, sagt die ehemalige Chefredakteurin der Zeitung Jordan Times. "Bitte, vergleichen Sie Jordanien mit Tunesien oder meinetwegen mit dem Libanon, wenn es um eine liberale Medienlandschaft geht. Aber vergleichen Sie uns nicht mit all diesen Ländern, deren Herrscher null Respekt für Menschenrechte haben und sich wie die schlimmsten Autokraten verhalten."

Ein verheerender Bericht zur Regierungsführung

Regierung und Königshaus benutzen die Krisen in der Region und die vielen Flüchtlinge im Land als Entschuldigung für die miserable Lage. Zwar trifft der Wegfall der Märkte in Syrien und im Irak das Land durchaus hart und die Rahmenbedingungen sind schwierig: Jordanien ist ein Land ohne nennenswerte Ressourcen oder große landwirtschaftlich nutzbare Flächen. Doch die Probleme sind auch hausgemacht.

Ende 2018 veröffentlichte Mustafa Hamarneh, Leiter des "Economic and Social Council" (ESC), den 1.500-seitigen Bericht "State of the Country". Über 700 jordanische Wissenschaftler haben daran gearbeitet. Hamarneh gilt als Teil der Führungselite; er trifft den König regelmäßig und der ESC soll die Regierung beraten. Nichtsdestotrotz enthält der Bericht über die Regierungsführung der letzten 18 Jahre eine schonungslose Abrechnung mit Inkompetenz, Vetternwirtschaft und Korruption im Königreich. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die jordanische Journalistin Rana Sabbagh; Quelle: Twitter@Rana_Sabbagh
Rana Sabbagh: "Die Menschen wollten wissen, was sie für ihre Steuern bekommen", sagt sie. "Bildungs- und Gesundheitswesen sind sehr schlecht, Straßen und Infrastruktur miserabel. Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir nichts bekommen?"

"State of the Country" beschreibt, dass die seit 2002 verkündeten insgesamt neun Strategien der Regierung für Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen in einem Dschungel von Bürokratie, Desinteresse und Inkompetenz versandet sind. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen weiter und der Staat sei nicht in der Lage, den Bürgern des Landes ein akzeptables Niveau an öffentlichen Dienstleistungen zu präsentieren.

Wachsender Vertrauensverlust

Der Bericht kritisiert, dass es zwar viele schöne demokratisch klingende Institutionen gibt, diese aber lediglich eine Fassade darstellten, um dem Westen Reformbemühungen vorzugaukeln. Seit dem Jahr 2000 gab es elf Regierungen mit 370 Ministern, davon waren 257 Neulinge. All diesen Politikern sei es vorrangig darum gegangen, "ein Stück vom Kuchen abzubekommen auf der Basis einer eng verstandenen Clan-Zugehörigkeit", heißt es in "State of the Country".

"Öffentliche Ämter sind zu einer Chance verkommen, möglichst viel Geld zu machen und sich Prestige zu erwerben während Qualifikation, Rechenschaftspflicht und Kontrollmechanismen fehlen." Von dieser Art der Politik profitiere nur eine kleine Zahl von Jordaniern, während der Staat und die Mehrheit der Jordanier das Nachsehen hätten. Das politische Versagen habe zu einem weiteren Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt, resümiert Hamarneh.

Einen rapiden Vertrauensverlust in die Institutionen des Landes sieht auch Rana Sabbagh. Dennoch meint sie, "anders als bei den Herrschern in anderen Ländern der Region hat der König keine Probleme mit seiner Legitimität."

Es existiert ein breiter Konsens im Land, dass die Monarchie als Institution für ein fragiles Staatswesen aus Eastbankern und Palästinensern plus den vielen Flüchtlingen und Migranten unverzichtbar ist. "Aber die Menschen sind nicht zufrieden damit, wie das Land regiert wird." Und diese Unzufriedenheit äußern sie zunehmend offen. Auch wenn sie sich gegen die Politik des Königs richtet.

Claudia Mende

© Qantara.de 2019