Die bittere Verwestlichung der Welt

Der indische Autor Pankaj Mishra deutet in seinem Buch "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart" die globalen Verwerfungen aus einem Geburtsfehler der europäischen Moderne. Von Stefan Weidner

Von Stefan Weidner

Pankaj Mishra, geboren 1969, wartet in seinem neuen, weit ausgreifenden Essay mit einer radikalen These auf. Trotz etlicher Redundanzen und der Neigung, jede schlechte Nachricht für seine These einzuspannen, ist das Ergebnis verblüffend schlüssig, allerdings auch zum Verzweifeln.

Mishras Grundannahme besteht darin, die Traumata des 19. Jahrhunderts in Deutschland und anderen 'verspäteten' Nationen wie Italien und Polen auf die Probleme der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts hochzurechnen.

Aus dem Geist des Ressentiments gegenüber den beiden überlegenen, sich als liberal und aufgeklärt verstehenden Nationen England und Frankreich erwuchs unter den Völkern ohne Staat demnach ein nationalistischer, revanchistischer Mystizismus.

Wiederauferstehung des Nationalismus

Genauso fühlen sich heute Russen, Türken, Araber, Chinesen gegenüber dem Westen. "Die politische Wiederauferstehung des Nationalismus beweist, dass Ressentiments – in diesem Falle von Menschen, die sich von der globalisierten Ökonomie abgehängt oder von deren cleveren Oberherren und Claqueuren in Politik, Wirtschaft und Medien verächtlich ignoriert fühlen – die Ersatzmetaphysik der modernen Welt geblieben sind."

Der italienische Freiheitskämpfer und Vordenker Mazzini; Foto: wikipedia
Ausgiebig belegt Mishra in seinem Buch, dass Freiheitskämpfer wie Guiseppe Mazzini mit ihren romantischen Visionen in allen aufstrebenden, sich benachteiligt fühlenden Ländern außerhalb Europas intensiv rezipiert und nachgeahmt worden sind.

Mishras Gewährsleute für diese "Ersatzmetaphysik" sind Herder und Fichte, der italienische Freiheitskämpfer und Vordenker Mazzini, der futuristische Dichter D’Annunzio und der polnische Nationaldichter Mickiewicz, aber auch Dostojewski und der russische Anarchist Bakunin.

Ausgiebig belegt Mishra, dass diese Dichter, Denker und Aktivisten mit ihren romantischen Visionen in allen aufstrebenden, sich benachteiligt fühlenden Ländern außerhalb Europas intensiv rezipiert und nachgeahmt worden sind.

Ähnlich wie der aufgestaute Frust im 19. Jahrhundert den anarchistischen Terrorismus und seine Theoretiker hervorbrachte, hat er heute zum islamischen Terrorismus und zu national-religiösen Autokraten vom Schlage Putins, Erdoğans und Modis geführt, der in Indien eine nationalistische Ideologie islamfeindlicher, hinduistischer Erweckung verfolgt und sich dabei auf den indischen Mazzini-Schüler Savarkar stützt, von dem sich auch der Mörder Gandhis inspirieren ließ.

Das uneingelöste Wohlstandsversprechen

Die unverwüstliche wirtschaftliche Hegemonie des Westens kollidiert dabei mit den Versprechen von Wohlstand und individuellem Glück, das der Westen der Welt gemacht hat, das aber nur für die wenigsten eingelöst wird. Mishras nachvollziehbarer Befund konfrontiert die Apologeten der gegenwärtigen Weltordnung mit der Frage, wie sie all denjenigen Menschen Perspektiven bieten und Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, die ihre Traditionen für das individuell-materialistische Heilsversprechen nach und nach über Bord geworfen haben.

Unter Verweis auf Gandhi und Simone Weil deutet Mishra an, dass es Zeit wäre, die "einseitige Betonung von Rechten in Frage" zu stellen und damit "jene Ansprüche habgieriger egoistischer Individuen gegenüber anderen, die der weltweiten Ausbreitung der Kommerzgesellschaft zugrunde" liegen.

Den Konflikt zwischen liberaler und anti-liberaler Weltsicht sieht Mishra (mit Nietzsche) auf archetypische Weise im "Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760" vorgebildet. Voltaire erscheint als der liberale Aufklärer, der sich bestens mit den Mächtigen versteht, sich in den Salons herumtreibt und die ökonomischen Vorteile seiner Position zu nutzen weiß.

Pankaj Mishra "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart"
Unter Verweis auf Gandhi und Simone Weil deutet Mishra an, dass es Zeit wäre, die „einseitige Betonung von Rechten in Frage“ zu stellen und damit "jene Ansprüche habgieriger egoistischer Individuen gegenüber anderen, die der weltweiten Ausbreitung der Kommerzgesellschaft zugrunde" liegen.

Rousseaus verhängnisvolle Selbststilisierung

Er ist der Prototyp für die mit dem Westen kooperierenden und davon profitierenden Eliten nicht-westlicher Länder, die auf ihre Mitbürger gern als unaufgeklärt herabsehen und mit dem Liberalismus, den sie propagieren, auch wirtschaftlich bestens fahren.

Rousseau hingegen fühlte sich in der höheren Gesellschaft unwohl, empfand sich als Vertreter des Volks und stilisierte seine Streitsucht als Aufrichtigkeit, Reinheit und soziales Märtyrertum – eine Selbststilisierung, die in den Propagandavideos heutiger Terroristen wiederkehrt. Damit ist Rousseau der Vorläufer all jener, die sich heute ebenfalls verkannt und übergangen fühlen und an der Gesellschaft Rache nehmen wollen.

Beide Haltungen hängen laut Mishra zusammen und sind gleichermaßen dazu disponiert, Opfer in Kauf zu nehmen. Voltaire war es, der Katharina der Großen empfahl, "Polen und Türken die europäische Aufklärung mit aufgepflanztem Bajonett zu lehren". Mit seinen Attacken gegen die Religion schuf er erst den Platz für die Ersatzreligion des Ressentiments.

Die zwei Seiten der gewaltaffinen Medaille

Und anders als Rousseau interessierte er sich nicht für das Schicksal der einfachen Leute. Die beiden sind die zwei Seiten der zugleich glitzernden und gewaltaffinen Medaille, die "Westen" heißt und wie der Dollar sogar dort die Leitwährung ist, wo man lautstark dagegen agitiert. Für die Menschen im Westen gilt derweil: "Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; seine Maginot-Linie läuft quer durch unser Herz und unsere Seele." Denn "unsere Kultur" – Mishra zählt sich offensichtlich dazu – fördere "unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus."

Mal angenommen, diese sehr pauschale Aussage träfe zu, wie wäre dieses Dilemma zu lösen? Wenn es jenseits des Westens nichts mehr gibt, weil dieser alle anderen kulturellen Tradition infiltriert hat, wie lautete die Alternative? Darauf bleibt Mishra die Antwort schuldig. Er, der von sich sagt, er "sympathisiere mit beiden Seiten dieser Debatte" will offenbar weder Voltaire, noch Rousseau sein.

Da es in der von ihm geschilderten Welt aber nur diese beiden Möglichkeiten gibt, fragt sich, was er stattdessen sein will. "Die Notwendigkeit eines wahrhaft verändernden Denkens über das Ich und die Welt", die der letzte Satz des Buchs postuliert, ist schon anderen aufgefallen. Wir wüssten daher jetzt gern, wie dieses Denken aussieht.

Kennt man die anderen Bücher Mishras, besonders den autobiographisch-kulturgeschichtlichen Essay "Der Weg zum Buddha", scheint er persönlich zu einer buddhistischen Antwort zu neigen. Da Mishra aber niemanden bekehren will, lässt er seine Leser mit seinem bitteren Befund allein und verstärkt damit am Ende womöglich den Nihilismus, gegen den er andenken will.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2017

Pankaj Mishra: "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart", aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 416 Seiten, ISBN: 9783103972658