Schicksalswahl in Israel

Programmatisch hat der gegenwärtige Wahlkampf in Israel nur wenig zu bieten. Nicht soziale Fragen, die Ökonomie oder der Konflikt mit den Palästinensern sind das beherrschende Thema, sondern Machtfragen. Informationen von Inge Günther

Von Inge Günther

Israels Premier Benjamin Netanjahu kämpft um sein politisches Überleben. Zum zweiten Mal in diesem Jahr stehen am 17. September Neuwahlen zur Knesset an, nachdem Netanjahu im ersten Anlauf im April keine Regierung zustande brachte. Nur ein klarer Wahlsieg kann ihn vor einer drohenden Korruptionsanklage und damit vor einer möglichen Gefängnisstrafe bewahren.

Umso mehr setzt Netanjahu auf Attacken – vor allem gegen die Minderheit arabischer Israelis. "Sie klauen uns die Wahlen", lautet sein jüngster Vorwurf, mit dem der Premier den Versuch rechtfertigte, im Eilverfahren ein Gesetz durchzupeitschen, dass eine Kameraüberwachung von Wahllokalen erlauben soll.

Ein Regierungskomitee nickte den Entwurf auch brav ab, trotz Einsprüchen von Rechtsexperten und des Zentralen Wahlkomitees, das die Unterstellung, die Araber neigten zum Wahlbetrug, als unbegründet zurückwies. Ein Knesset-Ausschuss blockierte denn auch das Unterfangen, dieses hoch problematische Gesetz so kurz vor dem Wahltermin im Parlament zu verabschieden. Wenn nicht, hätte vermutlich das Oberste Gericht es wegen Verstoßes gegen das Wahlgeheimnis gekippt.

Netanjahus Angst um Verlust der Immunität

Solche Bedenken halten freilich den Premier nicht ab, mit seiner Kamera-Kampagne weiter Ressentiments zu schüren. So wie er es schon 2015 tat, als er mit seinem Aufschrei, "die Araber strömen in Scharen zu den Wahlurnen", die eigenen rechten Wähler mobilisiert hatte. Oppositionspolitiker äußerten noch einen anderen Verdacht, nämlich dass Netanjahu vorbauen wolle, um im Falle einer Niederlage behaupten zu können, das Wahlergebnis sei gefälscht.

Ministerpräsident Netanjahu am 10.09.2019 zur Annektion des Jordantals; Foto: picture-alliance/dpa
Fatales politisches Signal: Eine Woche vor der vorgezogenen Parlamentswahl in Israel hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angekündigt, im Falle seiner Wiederwahl das Jordantal im besetzten Westjordanland zu annektieren. Nach einem Wahlsieg werde er Israels Souveränität "sofort" auf das an der Grenze zu Jordanien gelegene Gebiet ausweiten, erklärte Netanjahu. Jordanien und die Palästinenser warnten vor katastrophalen Konsequenzen eines solchen Schritts.

"Kein Zweifel, Netanjahu hat Angst, die Mehrheit und damit seine Immunität zu verlieren", meint auch Ahmed Tibi, der wohl bekannteste arabische Knesset-Abgeordnete. "Wandel liegt in der Luft." Tibis Optimismus rührt daher, dass die arabischen Parteien sich wieder zu einer Vereinten Liste durchgerungen haben. Beim letzten Mal waren sie getrennt angetreten, weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Kandidatenliste einigen konnten.

Aus Unmut über die Zerstrittenheit ihrer politischen Vertreter blieben viele arabische Wähler zu Hause. Die Folge: Balad, die kleinste und links-national ausgerichtete arabische Partei, schaffte es nur mit Ach und Krach über die 3,25 Prozenthürde in die Knesset. Eine starke Wahlbeteiligung der arabischen Minderheit, immerhin zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung, könnte diesmal das Kräfteverhältnis zugunsten der Opposition verschieben.

Wer hat den größten Rückhalt im Parlament?

Israelische Wahlarithmetik ist schon wegen der Fülle und Verschiedenheit der antretenden Parteien kompliziert. Neun, wenn nicht gar zehn von ihnen werden wahrscheinlich den Einzug in die Knesset schaffen. Entscheidend ist deshalb nicht so sehr, ob Netanjahus rechtskonservativer Likud oder das gemäßigte Bündnis Kahol-Lavan (Blau-Weiß) unter Ex-Generalstabschef Benny Gantz besser abschneiden. Am Ende zählt, wer im Parlament den größeren Rückhalt genießt, um vom Staatspräsidenten den Regierungsauftrag zu erhalten.

Bei den April-Wahlen lief das auf Netanjahu hinaus, obwohl sein Likud und Blau-Weiß mit 35 Mandaten gleichauf lagen. Aber dann stellte sich ausgerechnet Avigdor Lieberman, ein säkularer Rechtspopulist, der sich mit den Ultrafrommen gerne anlegt, in den Koalitionsverhandlungen quer. Nun könnte ihm die Rolle des Königsmachers zufallen. Ohne Lieberman dürfte weder das von Netanjahu geführte Lager der rechten und religiösen Parteien, noch die Mitte-Links-Opposition, zu der auch die Arabische Vereinte Liste gerechnet wird, auf eine Mehrheit von 61 Sitzen in der 120 köpfigen Knesset kommen.

Gewachsene Popularität Liebermans

Noch vor wenigen Monaten galt die Lieberman-Partei Israel Beitenu (Unser Zuhause Israel) als kleine Klientelpartei russischsprachiger Einwanderer. Doch inzwischen fischt sie lagerübergreifend Stimmen und könnte laut Umfragen ihre fünf Sitze glatt verdoppeln. Liebermans Wahlversprechen, die Privilegien der Haredim, wie die strenggläubigen Juden genannt werden, zu beschneiden, ist populär.

Viele Israelis sind es satt, dass Jeshiva-Studenten den Steuerzahlern auf der Tasche liegen, aber vom Militärdienst befreit sind. Oder dass am Sabbat keine öffentlichen Busse fahren dürfen, weil die Religiösen darin einen Bruch des heiligen Ruhegebots sehen. Ihren Forderungen gab Netanjahu immer wieder nach, um seine frommen Koalitionspartner von Schas- und Thora-Partei bei Laune zu halten.

Knesset-Sitzung am 30. April 2019 in Jerusalem; Foto: Getty Images/AFP
Die Knessetwahl als Schicksalswahl für Netanjhu: Israel wählt am 17. September ein neues Parlament. Dabei zeichnet sich ein knappes Rennen zwischen Netanjahus rechtskonservativem Likud und dem oppositionelle Bündnis der Mitte, Blau-Weiß von Ex-Militärchef Benny Gantz, ab. Nur ein klarer Wahlsieg Netanjahus kann ihn vor einer drohenden Korruptionsanklage und damit vor einer möglichen Gefängnisstrafe bewahren, schreibt Günther.

Lieberman will damit Schluss machen. "Meine Stimme bekommt er", ist selbst von Anhängern der Arbeitspartei zu hören. Da man einen Friedensprozess derzeit eh vergessen könne, müsse man wenigsten die Chance nutzen, dem religiösen Einfluss auf die Politik Einhalt zu gebieten. Dass Lieberman in einer Westbank-Siedlung lebt, sich in der Vergangenheit als Araber-Hasser hervortat und voriges Jahr bei der Bürgermeister-Wahl in Jerusalem den religiösen Kandidaten unterstützte, fällt für sie offenbar nicht ins Gewicht.

Programmatisch hat dieser Wahlkampf ansonsten wenig zu bieten. Nicht soziale Fragen, die Ökonomie oder der Konflikt mit den Palästinensern sind das beherrschende Thema, sondern Machtfragen. Werden die Nationalrechten und die Siedlerlobby, die Netanjahu um sich geschart hat – nicht zuletzt, um mit ihrer Unterstützung Immunität gegen die drohende Korruptionsanklage zu erlangen – weiter den Kurs bestimmen? Oder sind die Gegenkräfte, dieses ganz und gar nicht einheitliche Sammelbecken aus Blau-Weiß-Generälen und linksliberalen Schrumpfparteien, stark genug, das Ruder herumzureißen? Sie haben sich die Verteidigung von Demokratie und rechtsstaatlichen Institutionen auf die Fahnen geschrieben. Die Arabische Vereinte Liste kommt für sie (mit Ausnahme von Meretz) aber nicht als Partner, sondern allenfalls als Mehrheitsbeschaffer in Betracht.

Nur Bürger zweiter Klasse?

"Netanjahu will keine Araber in der Knesset, und Gantz will keine Araber in der Koalition", bringt es Ayman Odeh, Bürgerrechtsanwalt und Spitzenkandidat der Vereinten Liste, auf den Punkt. Als Odeh sich kürzlich mit der Aussage vorwagte, er könne sich durchaus einen Eintritt in eine Mitte-Links-Regierung unter gewissen Bedingungen vorstellen, schlug ihm allerdings auch der Protest der arabischen Gesellschaft entgegen. Zu tief sitzt dort das Gefühl, ohnehin nur Bürger zweiter Klasse zu sein.

Das unter Netanjahu verabschiedete Nationalstaatsgesetz von 2018, das den jüdischen Staatscharakter hervorhebt, hat dies noch verstärkt. Odeh blieb nichts übrig, als seinen Vorschlag zurückzuziehen. Wie es scheint, sind die arabischen Abgeordneten höchstens bereit, das Gantz-Lager aus der Opposition heraus zu unterstützen. Und so könnte Netanjahu am Ende doch wieder der lachende Sieger sein.

Inge Günther

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