Der Gast, der keiner mehr ist

Die deutsche Migrantenliteratur hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Die "Gastarbeiterliteratur" ist weit überholt. Die neue Generation der Literatur mit Migrantenhintergrund ist in der "Normalität" angekommen, schreibt Andreas Schumann.

Die deutsche Migrantenliteratur hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Die "Gastarbeiterliteratur" ist weit überholt. Die neue Generation der Literatur mit Migrantenhintergrund ist endlich in der "Normalität" angekommen, schreibt Andreas Schumann.

Wo sind sie hin, die Romanfiguren, die als Gastarbeiter und Zuwanderer in Deutschland ihr tristes Dasein fristen, um Verständnis und Akzeptanz bitten, sich um ihre Identität in der Fremde bemühen, dem Gastland trotzen?

Seit den 1960er Jahren hatten wir uns an diese fiktiven MitbürgerInnen gewöhnt; selbst wenn ihre Geschichten nur von Wenigen gelesen wurden, so waren sie doch genau so vorhanden wie ihre Widergänger im realen Alltag. Doch seit wenigen Jahren werden sie in der Literatur der AutorInnen, deren Muttersprache nicht die deutsche war, immer seltener.

Liegt dies allein darin begründet, dass die Migration nach Deutschland insgesamt rückläufig ist, mittlerweile die dritte Generation an Zuwanderern hier lebt, arbeitet, schreibt – und somit die Muttersprache mehr und mehr doch die deutsche ist? Oder ist die erst in den 1980er Jahren allmählich entdeckte Literatur der Migranten endlich in der "Normalität" angekommen, ist sie integraler Bestandteil deutschsprachiger Literatur ohne das Zeichen des Exzentrischen und Marginalen geworden?

Wegfall des Integrations- und Assimilationsdruck

Die Geschichte der "Migrantenliteratur" in Deutschland hat durch die von Feridun Zaimoğlu maßgeblich mitinszenierte Kanak-Bewegung ab 1995 eine völlig neue Richtung genommen. Weit entfernt von der "Gastarbeiterliteratur" der 1960er Jahre, ohne den deutlich politisch markierten Impuls der "Literatur der Betroffenheit" (Franco Biondi/Rafik Schami) oder dem Wunsch nach einer zwischen den Kulturen vermittelnden Literatur (Yüksel Pazarkaya ), gehen viele Texte, die von AutorInnen mit Migrationshintergrund stammen, neue Wege.

Fragen nach Identitäten werden abgelöst von der Suche nach Individualität, die in der dargestellten Welt inszenierten Räume leben nicht mehr von der Semantik des Eigenen oder des Fremden. Es geht nicht mehr vorrangig um einen clash of cultures – und damit fällt auch der Integrations- bzw. Assimilationsdruck auf die Figuren in den Texten (wie offensichtlich auch auf die real Schreibenden) weg.

"Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch"

Die große "Wende" weg von einer "Migrations-" oder "Ausländerliteratur" wird im Jahre 2000 markiert mit zwei Anthologien: Ilija Trojanow (Hg.): Döner in Walhalla. Texte aus einer anderen deutschen Literatur. (Köln: Kiepenheuer & Witsch) und Jamal Tuschick (Hg.): Morgen Land. Neueste deutsche Literatur. (Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch).

Die Veränderungen werden in beiden Büchern an sehr prominenter Stelle betont. Ilija Trojanow leitet seinen Band mit der Frage ein: "Welche Spuren hinterläßt der Gast, der keiner mehr ist?" und in Morgen Land heißt es – in aller Radikalität und Deutlichkeit – "Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch."

Weder geht es um die Suche nach Möglichkeiten einer Integration in die deutsche Gesellschaft noch um die trotzige Gebärde der Selbstbehauptung, wie in Zaimoğlus fiktiven Protokollen Kanak Sprack. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft (1995), oder Koppstoff.

Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1998) – allein die Untertitel belegen hier ja noch die selbstinszenierte Eigen- und Randständigkeit der "Migrantenliteratur". Doch davon sind die Beiträge in den beiden Anthologien ebenso weit entfernt wie andere Beispiele der "neuesten deutschen Literatur".

Migrantenliteratur ist "normal" geworden

Und noch etwas wird in diesen Bänden augenfällig, nämlich eine Tendenz, die sich während der 1990er Jahre allmählich vorbereitete: Die zunehmende Vielfältigkeit der biographischen Hintergründe der AutorInnen. Die nationale Herkunft spielt kaum mehr eine Rolle, eindeutige Gründe für eine Zuwanderung wie Arbeitsmigration oder politisch motivierte Flucht lassen sich kaum mehr ausmachen.

Viele der jüngeren Schreibenden gehören darüber hinaus der so genannten zweiten und dritten Generation an, viele sind bereits in Deutschland geboren, die Sprache, in der sie schreiben ist im Regelfall die deutsche. Wie soll sich da ein gemeinsamer Standpunkt, eine gemeinsame Intention der Schreibenden aus einem Migrationshintergrund einstellen, wie er in den letzten 30 Jahren immer wieder gefordert wurde?

Es ist somit wohl mittlerweile unzulässig, von einer "Migrantenliteratur" in Deutschland zu reden, auch ist es nicht mehr eine "Literatur der Fremde" noch eine Kultur vermittelnde Dichtung. Sie braucht keine Ideologie, keinen politisch-moralischen Anspruch, keine geschichtliche Kontinuität, keine nationale Identität, keine Bewertung von Handlungen mehr, braucht scheiternde Kommunikation nicht zu betrauern, kann sich dem Alltag zuwenden, kann die Identität von Gruppen herstellen – und hat sich damit von den Traditionen der Migrantenliteratur emanzipiert und ist "normal" geworden.

Neugier auf die Fremdheit des eigenen Alltags

Sicher, es gibt noch zahlreiche Bücher, die in der Tat Migration zum Thema haben, etwa bei Vladimir Vertlib (Zwischenstationen. 1999; Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. 2001) oder Ilija Trojanow (Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. 1996). Für solche Texte, die sich aus einem spezifischen Migrationshintergrund speisen – nämlich dem Wechsel aus ehemaligen Ländern des so genannten "Ostblocks" in den Kapitalismus – hat Heidi Rösch bereits 1998 den Begriff "Literatur der Systemmigration" angeboten.

Doch diese Beispiele sind nicht repräsentativ, wie man an den Romanen und Erzählungen von Wladimir Kaminer, Zsusza Bánk, Terézia Mora, Radek Knapp oder Dimitré Dinev leicht ersehen kann.

Das von Wladimir Kaminer in seinem Debüt Russendisko aus dem Jahre 2000 konstruierte Berlin zeichnet sich durch eine unbegrenzte Neugier auf die Fremdheit des eigenen Alltags aus, eine Stadt, in der Alle und Alles neben- und durcheinander leben, es gibt keinen dominant drive (schon gar keinen deutschen!), der Verhalten und Denken bestimmen könnte, die handelnden Personen sind auf ihren eigenen Einfallsreichtum angewiesen.

Heimat und Fremde gibt es nicht

In Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer (2002) hängt die Reise der drei Protagonisten – Vater, Tochter, Sohn – quer durch Ungarn zwar zusammen mit der Flucht der Mutter in den Westen, doch im Mittelpunkt steht die Suche nach einer eigenen Sprache, die der erlebten und erlittenen Situation angemessen sein könnte, nach einer Identität der beiden Kinder auf einer orientierungslosen Reise. Räumliche Bindungen spielen keine Rolle, ein Konzept von Heimatlichkeit steht völlig zur Disposition – nur die Suche nach Identität treibt die Figuren an.

Der Roman Alle Tage von Terézia Mora aus dem Jahre 2004 geht noch einen Schritt weiter. Der Protagonist, Abel Nema, wird bereits in der ersten Sequenz vorgestellt, wie er kopfüber an einem Baum hängt und sich die Welt mit einem verkehrten Blick betrachtet – dies könnte noch als traditionelle Metapher innerhalb einer Kultur vermittelnden, Differenzen suchenden Literatur verortet werden.

Doch diese Figur scheitert nicht daran, dass sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren kann, wie bald klar wird, sondern daran, dass sie sich anderen nicht mitteilen kann, obwohl sie zehn Sprachen beherrscht.

Abel Nema ist die Projektionsfläche für die Wünsche und das Begehren aller anderen Figuren in der dargestellten Welt, er selbst hat allerdings genau so wenig Kontur und Bedeutung, wie auch die aufgebotenen Räume durchgängig semantisch leer sind;

Kategorien von Heimat oder Fremde existieren nicht mehr – höchstens noch die Unmöglichkeit, in einem Land, einem Raum, einem System, einer Gesellschaft anzukommen. Damit steht auch die Option der Integration in eine andere Gesellschaft oder eine Abgrenzung von ihr nicht mehr zur Verfügung.

Neugier auf literarische Schreibweisen

In herausragender Weise spiegelt diese Entwicklung auch die jährliche Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises wider. Diese seit 1985 von der Robert-Bosch-Stiftung ausgelobte Auszeichnung für "bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur von Autoren nichtdeutscher Muttersprache" ist ein zuverlässiger Indikator für die literarischen Entwicklungen, dessen, was nicht mehr "Migrantenliteratur" genannt werden sollte – von Aras Ören und Rafik Schami im Jahre 1985 bis zu den Preisträgern des Jahres 2005, Feridun Zaimoğlu und Dimitré Dinev.

Mit der Veränderung des Preisträgerprofils geht auch eine Hinwendung zu anderen Inhalten einher. Es geht nicht mehr um die Darstellung des Eigenen im Fremden, sondern um die Neugier auf neue literarische Schreibweisen, wie die Beispiele von Aglaja Veteranyi, Marica Bodrožiċ oder Zsuzsa Bánk belegen, oder um einen umgekehrten ethnographischen Blick auf den deutschen Alltag, für den als prominenter Beleg die Auszeichnung von Asfa-Wossen Asserate (Manieren. Frankfurt/Main: Die andere Bibliothek 2003) gelten kann.

Der Chamisso-Preis zeigt der interessierten Leserschaft eine neue und spannende Literatur, die sich nicht mehr als Wortmeldungen des Gastes versteht, sondern sich in der deutschen Dichtung heimisch zu fühlen beginnt.

Andreas Schumann

© Litrix.de

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Litrix.de - dem deutschen Online-Literaturmagazin.

Andreas Schumann ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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