Die große Verwandlung

Der preisgekrönte pakistanisch-britische Autor Mohsin Hamid fragt in seinem neuen Roman, was wäre, wenn ein weißer Mann eines Morgens als Dunkelhäutiger aufwachte. Eine meisterlich geschriebene kafkaeske Parabel über Alltagsrassismus und Diskriminierung. Volker Kaminski hat sie für qantara.de gelesen.

Von Volker Kaminski

Der Schock sitzt tief, als Anders (ein durchaus "sprechender“ Name) eines Morgens feststellt, dass er statt seiner gewohnten weißen Haut dunkelhäutig ist. Alarmiert und verunsichert untersucht er seinen Körper, studiert ungläubig sein Gesicht im Spiegel und bemerkt, wie fremd ihm das eigene Selbst mit einem Schlag geworden ist, jetzt, da seine Haut dunkel und er somit Anders geworden ist.  

Gefühle von Scham, Wut und Trauer wechseln sich in dem jungen Fitnesstrainer ab. Er traut sich tagelang nicht aus dem Haus, meldet sich bei der Arbeit krank, lebt von seinen Essensvorräten und wartet ansonsten darauf, "dass der Spuk ein Ende nahm, dass alles wieder war wie vorher.“ Bei seinen ersten Kontakten mit der Außenwelt stellt er fest, "dass er sich irgendwie bedroht (fühlte), wenn er durch die Stadt lief“.



Die Menschen musterten ihn anders als gewohnt, doch er spürt auch, dass er sich langsam an seine Dunkelhäutigkeit gewöhnt. Durch die Verwandlung ist ein innerer Prozess in Gang gekommen, so dass er auf eine neue, fremde Weise "er selbst zu sein“ scheint. Er sieht sich zum ersten Mal mit den Augen der Anderen und kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, ein Dunkelhäutiger inmitten von Weißen zu sein.  

Ein beklemmendes Szenario

Hamid handhabt seine experimentelle Anordnung elegant und schildert in langen, fließenden Sätzen (manchmal über bis zu zwanzig Zeilen) alltägliche Begegnungen und Ereignisse im Leben seiner Protagonisten in einer Stadt im Ausnahmezustand (immer mehr Bewohner sind vom Wechsel der Hautfarbe betroffen). Anders hat Glück, dass seine Freundin Oona seine dunkle Haut mag, sie erkennt in ihr sogar Vorteile ästhetischer und psychischer Art.

Cover von Mohsin Hamids Roman Der letzte weiße Mann; Quelle: Verlag
"Der letzte weiße Mann“ schafft das Kunststück, eine Fiktion zu entwerfen, in der aktuelle Themen wie Diversität, Alltagsrassismus und Gruppenzugehörigkeit auf anschauliche, authentische Weise behandelt werden. Die Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner trifft den Ton für einen Vorgang der fließenden Verwandlung. Mohsin Hamid hat ein literarisches Meisterstück von großer Eleganz und Brisanz geschrieben.





Als Yogalehrerin ist sie ohnehin von Berufs wegen offen gegenüber neuen menschlichen Herausforderungen: "Sie sah den Anders in ihm deutlicher, warum auch immer, sie war froh, hier bei ihm zu sein, froh als Mensch, ihr Bedürfnis war nicht mechanisch, sondern organisch und deswegen komplizierter und auch fruchtbarer.“ 

Anders‘ Vater reagiert dagegen wie Oonas Mutter verständnislos, schockiert und abweisend auf die unerklärlichen, massenhaft stattfindenden Mutationen.



Für viele Menschen in der Stadt scheint es unerträglich, dass sie ihre weiße Hautfarbe einbüßen; es kommt zu Suiziden, Unruhen und gewaltsamen Übergriffen weißer Menschen gegen Dunkelhäutige.



Eine Zeitlang scheint sich die Romanhandlung auf einen bürgerkriegsartigen Zustand zuzubewegen; man denkt beim Lesen unwillkürlich an Saramagos apokalyptischen Roman "Die Stadt der Blinden“, wo die Mutation im Verlust der Sehfähigkeit besteht.



Hamid geht es jedoch nicht in erster Linie um ein beklemmendes Szenario, wenngleich sein Roman viel Spannung (die im Lauf der Handlung leider nachlässt) aus der Zuspitzung jener Konflikte bezieht.



Im Vordergrund steht bei ihm die menschliche Ebene, es geht um Ereignisse im Zwischenmenschlichen, die der Erzähler ungemein präzise und mit feinem psychologischem Gespür erfasst. 

Hamids Beschränkung auf seine Protagonisten (Anders und Oona) und ihren persönlichen Umgang mit der ungewohnten Herausforderung führt dazu, dass sich keine wesentliche Handlung ergibt.



Es kommen kaum Dialoge vor, doch wie sich der Wechsel der Hautfarbe in den Einzelpersonen widerspiegelt, lässt uns diese eigentlich fantastische Geschichte als authentisch und nahezu realistisch erleben.

Plausibel erzählte Geschichte

Die unterschiedlichen Reaktionen der handelnden Personen in Verbindung mit innerfamiliären Ereignissen (einschließlich Todesfällen von Geschwistern und Elternteilen), führen dazu, dass wir dem Autor seine Geschichte glauben und es am Ende für durchaus normal halten, dass es in der Stadt schließlich "gang und gäbe ist“, dass sich die Weißen in Dunkelhäutige verwandeln.  

 



 

Der Tonfall des Textes ist mitunter poetisch, der reflexive Erzählstil, die kreisenden Beobachtungen und Beschreibungen scheinen sich dem beschriebenen Prozess der Verwandlung anzugleichen.



Als Oonas Haut sich eines Tages verfärbt, empfindet sie den Vorgang wie eine "Häutung“, die ihre ganze Person betrifft und sich für sie anfühlt, als sei eine schwere Last von ihr genommen. Im Spiegel sieht sie "eine Fremde, so richtig fremd war sie allerdings nur im ersten Moment, erstaunlich, dieser Mund, diese Augen, dann hatte sie schon das Gefühl, sie zu kennen, und nach und nach wirkte sie immer vertrauter.“ 

"Der letzte weiße Mann“ schafft das Kunststück, eine Fiktion zu entwerfen, in der aktuelle Themen wie Diversität, Alltagsrassismus und Gruppenzugehörigkeit auf anschauliche, authentische Weise behandelt werden. Die Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner trifft den Ton für einen Vorgang der fließenden Verwandlung. Mohsin Hamid hat ein literarisches Meisterstück von großer Eleganz und Brisanz geschrieben.  

Volker Kaminski

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