Dienstag, 01. April 2003 15:13

Lieber Abbas, nach anderthalb Wochen Krieg sind hier in Deutschland Dinge zu beobachten, die ich nicht für möglich gehalten hätte: Nicht die täglichen Anti-Bush und Friedensdemonstrationen sind das ...

Lieber Abbas,

nach anderthalb Wochen Krieg sind hier in Deutschland Dinge zu beobachten, die ich nicht für möglich gehalten hätte: Nicht die täglichen Anti-Bush und Friedensdemonstrationen sind das Neue, die gab es immer und zu jeder Gelegenheit, und die Demonstrierenden gehörten und gehören meist fest umrissenen gesellschaftlichen Gruppen an: Mitglieder oder Sympathisanten der SPD, der Grünen, der Gewerkschaften, linke kleine Splittergruppen, sonstige Marginale.

Nein, wirklich neu scheint mir eine Empörung über die amerikanische Regierung zu sein, sowie ein Überdruß sowohl an ihrer manifesten Dummheit als auch an der kolonialistischen Arroganz, mit der sie den Rest der Welt behandelt, ihre eigenen Verbündeten eingeschlossen – eine Empörung, die weit über die Grenzen der obengenannten Gruppen hinausgeht:

Ich habe in den letzten Tagen voller Verblüffung Menschen sich von den USA abwenden und erstmals ihre Hoffnung auf die Entwicklung eines geeinigten Europas setzen sehen, die zuvor in allen Belangen: Politisch, wirtschaftlich, kulturell, der Meinung waren, unsere Zukunft läge nur und ausschließlich in engster Solidarität (in Vasallentum) zur USA.

Einige Wochen vor dem Krieg hörte ich noch einen Politiker abfällig sagen: Ein deutsch-französisches Modell gehört auf den Abfallhaufen der Geschichte. Unsere Zukunft ist die enge Bindung an die USA. Mehr und mehr Leute scheinen jetzt zu verstehen, daß wir vielleicht eine Alternative haben zur blinden Gefolgschaft mit einem Staat, dessen Führung in ihrer fanatischen religiösen Verbrämung eigener Machtinteressen und in ihren antidemokratischen Reflexen den von ihr so bezeichneten Schurkenstaaten ähnlicher sieht, als ihr lieb sein kann.

Und nicht nur eine Alternative haben wir: Mehr und mehr Menschen scheinen zu spüren, daß wir in Europa auch besseres verdienen, als uns zum Kasper dieses Bush-geführten Amerikas zu machen. Ich möchte dir einen Ausschnitt aus einem Artikel zitieren, den der hervorragende österreichische Schriftsteller Robert Menasse vor zwei Wochen in der „Literarischen Welt“ veröffentlicht hat. Besser ist dieses plötzlich erwachte euro-demokratische Selbstbewußtsein gar nicht darzustellen:

„Bush’s Law „Führe Kriege nur noch gegen Länder, die den Krieg anschließend auch bezahlen können“ ist zwar die erste Innovation auf dem Gebiet der Kriegstheorie seit Clausewitz, aber: So avantgardistisch dieser Gedanke auch ist, er ist doch nur ein primitiver Reflex auf die strukturelle Rückständigkeit der USA gegenüber Europa: Die europäische Politik ist bereits nachnational, während die USA Politik noch immer nur als nationale Interessenspolitik begreifen können. Die europäische Politik ist nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Recht den Weg der Friedenspolitik gegangen, während die USA trotz ihrer Erfahrungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch auf militärische Eroberung und militärische Absicherung ihrer Märkte und Ressourcen setzt. Die USA mögen in der technologischen Entwicklung Vorreiter und daher in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums Europa quantitativ voraus sein, in der Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aber sind sie im Vergleich zu Europa abgeschlagene Nachzügler. Der Unterschied zwischen US-Marktwirtschaft und europäischer sozialer Marktwirtschaft ist etwa so groß wie der zwischen der Keilschrift und dem Angebot der Frankfurter Buchmesse. Die Ideen der Aufklärung mögen vor 200 Jahren in den USA weitergehend verwirklicht gewesen sein als damals auf dem „alten Kontinent“, mittlerweile sind aber die USA Nachzügler sogar ihrer eigenen konstitutiven Ideen geworden: Vom Einfluss der Religion auf die Politik bis zur Todesstrafe zeigen sich die USA heute sogar für ihre Sympathisanten als Entwicklungsland der Aufklärung.“

Ich kann mich noch gut erinnern, wie vor einigen Jahren, als ich noch in Frankreich lebte, die französische Regierung als einzige europäische sich einem amerikanischen Plan entgegenstellte, den Im- und Export von Kulturgütern (Büchern, Filmen etc) nach denselben Regeln zu handhaben wie den aller anderen Wirtschaftsprodukte. Alle französischen Zeitungen waren voll davon – in Deutschland redete niemand darüber. Damals begann auch der französische Widerstand gegen eine Globalisierung, die allein amerikanischen Interessen zugute kommt, aus dem dann schließlich „Attac“ wurde, das heute in der ganzen Welt präsent ist.

Es sieht fast so aus, als wären die Europäer tatsächlich erwacht. Das wäre gut für jedermann, langfristig auch für euch im Orient. Warten wir ab, ob ihre Emanzipation ein Strohfeuer ist, oder tatsächlich ernst gemeint . Sollte es den Amerikanern gelingen, Saddam doch rasch und ohne zu viel Blutvergießen zu stürzen, und gingen sie danach wider alles Erwarten ernsthaft die Palästinafrage an, würden ihnen die Herzen der Europäer ebenso schnell wieder zufliegen wie sie ihnen jetzt abhanden kommen.

Liebe Grüße
Michael Kleeberg