In Rivalität fest verbunden 

Algerien hat am 24. August 2021 entschieden, die diplomatischen Beziehungen zu seinem Nachbarn Marokko abzubrechen und beschuldigte Rabat, "feindliche Tendenzen" gegenüber Algerien zu unterstützen.
Algerien hat am 24. August 2021 entschieden, die diplomatischen Beziehungen zu seinem Nachbarn Marokko abzubrechen und beschuldigte Rabat, "feindliche Tendenzen" gegenüber Algerien zu unterstützen.

Im August 2021 hat Algerien seine diplomatischen Beziehungen zu Marokko abgebrochen. Überraschend kam das nicht. Schließlich reichen die Spannungen zwischen den beiden Nachbarländern viele Jahre zurück. Von Ilham Rachidi 

Essay von Ilhem Rachidi

Bereits im Dezember 2020 hatten sich die Spannungen zwischen Marokko und Algerien erheblich verschärft, als Marokko seine Beziehungen zu Israel normalisierte. Zuvor hatten die USA im Gegenzug die Souveränität Marokkos über das Gebiet der Westsahara anerkannt. Seither scheint Algerien diplomatisch zunehmend isoliert. Im März dieses Jahres war es ein weiterer Schlag für die Führung in Algier, als Spanien seine Unterstützung für den marokkanischen Autonomieplan zur Westsahara erklärte. 

In den vergangenen Monaten gingen die verbalen Angriffe zwischen beiden Ländern weiter oder verschärften sich gar im Ton. Im Juli verärgerte Omar Hilale, Ständiger Vertreter Marokkos bei den Vereinten Nationen, die algerische Führung, als er als Reaktion auf die algerische Unterstützung der Polisario offen die Selbstbestimmung der Region Kabylei forderte. Daraufhin rief Algerien seinen Botschafter aus der marokkanischen Hauptstadt zu Konsultationen zurück. 

In der Zwischenzeit produzierte der Pegasus-Skandal Schlagzeilen. Eine Recherche internationaler Medien beschuldigte Marokko, die Telefone politischer und militärischer Vertreter Algeriens mithilfe der Pegasus-Software gehackt zu haben, was Rabat jedoch bestreitet. Algerien bezichtigte Marokko zudem, die Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei (Mouvement pour l'autodétermination de la Kabylie, MAK) sowie die islamistische Rachad-Bewegung zu unterstützen. Beide Gruppierungen werden von Algerien als Terrororganisationen eingestuft. Die algerischen Behörden beschuldigten auch Marokko, hinter den verheerenden Waldbränden in der Kabylei zu stecken, ohne dafür allerdings Beweise vorzulegen. 

Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung 

Im November vergangenen Jahres kamen drei algerische Lkw-Fahrer auf der Fahrt von Mauretanien bei einem Bombenanschlag in der Westsahara ums Leben. Algerien schrieb die Verantwortung für den Anschlag Marokko zu. Rabat hat sich bislang dazu nicht öffentlich geäußert. Erstmals seit Jahrzehnten geht seither die Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung um. Auch wenn sie eher unwahrscheinlich ist, so verschärfte der tragische Vorfall die Spannungen in einer ohnehin instabilen Region. Dies gilt vor allem, seit die Polisario den 29-jährigen Waffenstillstand mit Marokko im Jahr 2020 für beendet erklärt hat.

Marokkaner beim Grünen Marsch in 1975 (Foto: dpa)
Die Beziehungen zwischen Algerien und Marokko verschlechterten sich dramatisch nach dem sogenannten Grünen Marsch, den Marokko im November 1975 organisierte. Damals marschierten 350.000 unbewaffnete Menschen in die zu Spanien gehörende Kolonie Spanisch-Sahara, die heutige Westsahara. Das Gebiet wurde wenige Tage später im Rahmen des Madrider Abkommens zwischen Marokko und Mauretanien aufgeteilt. Weder die Polisario noch Algerien gehörten damals zu den Vertragsparteien. Das algerische Regime reagierte mit der spontanen Ausweisung von 45.000 marokkanischen Familien, die sich zu dem Zeitpunkt in Algerien aufhielten. 

Algerien hat seine Landgrenze zu Marokko bereits seit 1994 geschlossen, nachdem Marokko die algerischen Geheimdienste für einen Terroranschlag in einem Hotel in Marrakesch verantwortlich gemacht hatte, der von französischen Staatsbürgern nordafrikanischer Abstammung verübt worden war. Algerische Staatsbürger wurden daraufhin mit der Visumspflicht belegt. Wer keine Aufenthaltsgenehmigung besaß, wurde ausgewiesen. 

Der jüngste Konflikt der beiden Nachbarn ist also nicht ohne Vorgeschichte. Vielmehr macht er die Lage vor Ort noch deutlicher. Bislang beschränkten sich die Folgen der erneuten Verschlechterung im Verhältnis zwischen beiden Staaten im wesentlichen auf die Sperrung des algerischen Luftraums für marokkanische Flugzeuge und die Weigerung Algeriens, den Vertrag für die Maghreb-Europa-Gaspipeline zu verlängern. Diese Pipeline führt vom algerischen Gasfeld Hassi R'Mel durch Marokko und versorgt Spanien mit Erdgas.  

Seit über vier Jahrzehnten gilt der Westsahara-Konflikt als Hauptgrund für die angespannten Beziehungen zwischen Algerien und Marokko. Die jeweiligen Standpunkte zum Status des strittigen Gebiets scheinen unversöhnlich. Für Marokko ist die Souveränität über die Westsahara eine nicht-verhandelbare nationale Frage. Algerien unterstützt die Befreiungsbewegung Polisario, die für die Unabhängigkeit des Gebiets eintritt. 

Im November 1975 drehte sich die geopolitische Dynamik zu Marokkos Gunsten. Gleichzeitig verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern dramatisch nach dem sogenannten Grünen Marsch, den Marokko im November 1975 organisierte. Damals marschierten 350.000 unbewaffnete Menschen in die zu Spanien gehörende Kolonie Spanisch-Sahara, die heutige Westsahara. Das Gebiet wurde wenige Tage später im Rahmen des Madrider Abkommens zwischen Marokko und Mauretanien aufgeteilt. Weder die Polisario noch Algerien gehörten damals zu den Vertragsparteien. Das algerische Regime reagierte mit der spontanen Ausweisung von 45.000 marokkanischen Familien, die sich zu dem Zeitpunkt in Algerien aufhielten. 

Ringen um Führungsrolle in der Region 

Im März 1976 erkannte Algerien die von der Polisario ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara an. Marokko brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen zu Algier ab. Als Rechtfertigung für ihre starre Haltung im Westsahara-Konflikt verweist die algerische Regierung darauf, dass sie das Recht auf Selbstbestimmung unterstütze, einen Grundsatz, auf dem das moderne Algerien aufgebaut worden sei. Gleichzeitig hat man damit allerdings auch ein praktisches Instrument an der Hand, um Marokko zu provozieren. Algier fordert eine Lösung des Konflikts in einem internationalen Rahmen, beispielsweise unter Einbeziehung der Vereinten Nationen, statt in direkten Verhandlungen mit Marokko. 

Fotomontage: Der frühere algerische Präsident Abdulaziz Bouteflika und König Mohammed VI. von Marokko (Foto: Getty Images)
Seit einem Treffen von Mohammed VI. von Marokko (re.) und dem inzwischen verstorbenen algerischen Präsidenten Bouteflika 2005 auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Algier gab es keine offiziellen Gespräche zwischen den Staatschefs beider Länder mehr. Heute kennen sich die politischen Akteure kaum noch. Die neue Generation wächst indes mit falschen Vorstellungen und Klischees auf, die von den regierungsnahen Medien beider Seiten verbreitet werden. Häufig werden darin die politischen Persönlichkeiten des jeweils anderen Landes diffamiert und dessen innenpolitische Krisen gezielt thematisiert. 



Der Streit um die Westsahara-Frage ist nur ein Fixpunkt in den angespannten Beziehungen zwischen Algerien und Marokko. Im Grunde geht es um die Vorherrschaft in der Region und um einen ungelösten Gebietskonflikt aus der Kolonialzeit, der 1963 zum Grenzkrieg zwischen Marokko und Algerien führte. Die Spannungen sind bis heute spürbar. 

Die unterschiedliche politische und ideologische Entwicklung der beiden ehemaligen Kolonien wurde offensichtlich, als die sozialistische Volksrepublik Algerien in den 1960er Jahren linke Oppositionelle aus dem Königreich Marokko aufnahm, beispielsweise an der damals renommierten Universität in Algier. Obwohl die Menschen beider Länder dieselbe Sprache, Kultur und Religion teilen, drifteten die politischen Systeme in ihrer jüngeren Geschichte auseinander. Das betrifft auch die strategischen Allianzen, insbesondere während des Kalten Krieges.  

Noch im Kampf gegen die damalige Kolonialmacht Frankreich diente Marokkos Grenze als Rückzugsgebiet für die algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) und die Entwicklung beider Länder schien miteinander verwoben zu sein. Bis zur Unabhängigkeit Algeriens unterhielten die Eliten Algeriens und Marokkos enge Beziehungen und waren sogar familiär verbunden. Bekannte politische Persönlichkeiten hatten zu dieser Zeit Kontakte in beiden Ländern. So hatte einer der überzeugtesten Befürworter der marokkanischen Monarchie, Abdelkrim El Khatib, einen algerischen Vater. Sein Cousin Youcef Khatib wiederum war während des algerischen Unabhängigkeitskriegs Kommandeur der Armée de Libération Nationale. 

Auf algerischer Seite war Cherif Belkacem, ein Mitglied des Oujda-Clans, der als Teil der FLN die Macht übernommen hatte, und führender politischer Akteur unter dem algerischen Präsidenten Houari Boumedienne, in Marokko aufgewachsen. Gleiches gilt für den ehemaligen algerischen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika, der allerdings algerischer Abstammung war. Die Wahl Bouteflikas zum Präsidenten im Jahr 1999 hatte daher Hoffnungen auf bessere Beziehungen in der politischen Elite Marokkos geweckt, obwohl Bouteflika lange Jahre zu Algeriens Spitzendiplomaten gehörte.

Vorurteile und falsche Vorstellungen auf beiden Seiten 

Während der zwanzigjährigen Herrschaft von Bouteflika erfüllten sich die Hoffnungen auf bessere Beziehungen allerdings nicht. Seitdem sich die Staatschefs von Marokko und Algerien 2005 auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Algier trafen, gab es keine offiziellen Gespräche mehr.

Die Flaggen beider Länder an einem Grenzübergang zwischen Marokko und Algerien (Foto: Getty Images)
Die Bevölkerung zahlt den Preis: Seit Jahrzehnten sind Familien voneinander getrennt. Wer auf die andere Seite der Grenze gelangen will, muss nach Casablanca fahren und von dort aus weiter mit dem Flugzeug nach Algier reisen oder andersherum. Nur Schmuggler hat die offiziell geschlossene Grenze nicht an ihren Geschäften gehindert, bis Algerien die Kontrollen verschärft hat. Marokkanische Bauern bewirtschaften seit jeher Land jenseits der Grenze. Nach der Grenzschließung finden sie sich in einer absurden Lage wieder. Im März 2021 kam es in El Arja in der marokkanischen Region Figuig zu Protesten, nachdem die algerischen Behörden erneut Menschen vertrieben hatten.   

Heute kennen sich die politischen Akteure kaum noch. Die neue Generation wächst indes mit falschen Vorstellungen und Klischees auf, die von den regierungsnahen Medien beider Seiten verbreitet werden. Häufig werden darin die politischen Persönlichkeiten des jeweils anderen Landes diffamiert und dessen innenpolitische Krisen gezielt thematisiert. Die langjährige politische Auseinandersetzung hat dennoch im Allgemeinen keinen Einfluss auf die Wahrnehmung in der jeweils anderen Gesellschaft. Die Menschen fordern weiterhin regelmäßig die Öffnung der Grenze. So zeugen Sportveranstaltungen, bei denen sich beide Seiten oft gegenseitig unterstützen, von wahrer Verbundenheit. 

Die Bevölkerung zahlt leider einen hohen Preis für die Spannungen: Seit Jahrzehnten sind Familien voneinander getrennt. Wer auf die andere Seite der Grenze gelangen will, muss nach Casablanca fahren und von dort aus weiter mit dem Flugzeug nach Algier reisen oder andersherum. Die Grenze ist zwar offiziell geschlossen, das hinderte Schmuggler aber nicht an ihren Geschäften, bis die algerischen Behörden in den letzten Jahren die Kontrolle verschärften. 

Marokkanische Bauern bewirtschaften seit jeher Land jenseits der Grenze. Nach der Grenzschließung befinden sie sich in einer absurden Lage. Im März 2021 kam es in El Arja in der Region Figuig zu Protesten, nachdem die algerischen Behörden erneut Menschen vertrieben hatten. Angesichts des Abbruchs der Beziehungen zwischen beiden Ländern befürchten viele Beobachter negative Folgen für die im Grenzgebiet ansässigen Menschen und neue Abschiebungen, falls sich die politische Lage weiter verschlechtert.  

Bei verschiedenen Gelegenheiten hat sich Marokko für eine Versöhnung eingesetzt und zum Dialog und zur Öffnung der Grenze aufgerufen. Als sich die Spannungen verschärften, forderte König Mohammed VI. in einer Thronrede eine neue Dynamik im Verhältnis beider Staaten. Dagegen zeigen die algerischen Machthaber, die größtenteils einer älteren Generation angehören und mit innenpolitischen Krisen zu kämpfen haben, bisher kein politisches Interesse an einer Versöhnung mit dem Nachbarn. Doch wenn sich die bilateralen Beziehungen verbessern sollen, müssen sich die Staatschefs beider Seiten endlich gemeinsam an den Verhandlungstisch setzen. 

Ilhem Rachidi 

© Carnegie Endowment for International Peace 2022 

Ilhem Rachidi arbeitet als freie Journalistin in Marokko. 

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers