Fragile Demokratie in Zentralasien

Im Osten China, im Norden Russland, im Süden Afghanistan: In dieser geopolitischen Umgebung sucht das seit 1991 unabhängige Kirgistan seinen eigenen Weg - und tut sich schwer damit. Marcel Fürstenau hat das Land in Zentralasien besucht.

Von Marcel Fürstenau

Für asiatische Verhältnisse ist Kirgistan mit seinen 200.000 Quadratkilometern Fläche ein Kleinstaat. Der direkte nördliche Nachbar Kasachstan ist bereits mehr als zehnmal so groß, und das östlich gelegene Riesenreich China lässt die frühere Sowjetrepublik auf der Weltkarte wie einen Zwerg erscheinen. Es ist ein schöner Zwerg, der sich mit Steppen, Wiesen, schneebedeckten Gebirgslandschaften und scheinbar endlosen Flüssen schmücken kann.

Der Reichtum an üppiger Natur kontrastiert mit einer zumindest für den westlichen Blick deutlichen Armut. Sie fällt umso mehr ins Auge, je weiter man sich von der Hauptstadt Bischkek im Norden des Landes entfernt. Hier Plattenbauten aus längst vergangenen sozialistischen Zeiten und vereinzelt luxuriöse Hochhäuser, dort primitiv anmutende Hütten mit Dächern aus Wellblech. Die Weltbank ermittelte für Kirgistan 2019, also kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, ein Bruttoinlandsprodukt von 1309 US-Dollar pro Kopf. Das bedeutete Rang 188 von 223 erfassten Staaten. Das monatliche Durchschnittsgehalt liegt nur knapp über 200 US-Dollar.



Talente suchen ihr Glück woanders

Wer mehr Geld verdienen will oder arbeitslos ist, versucht sein Glück in Russland oder Kasachstan. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sollen bis zu 1,5 Millionen Kirgisen als Arbeitsmigranten ihr Glück woanders suchen - fast ein Viertel der Bevölkerung! Vor allem junge, mobile Kirgisen verlassen ihre Heimat. Wer mit gut ausgebildeten Studenten spricht, hört immer wieder den einen Satz: "Ich will ins Ausland." 

Diesem Brain Drain, diesem Verlust an Talenten, versucht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) etwas entgegenzusetzen. An ihrer Akademie in Bischkek werden seit 2005 Führungskräfte für ganz Zentralasien ausgebildet. Ein Tropfen auf den heißen Stein? Schwer zu sagen. Anja Mihr, Politologin aus Deutschland, lebt und lehrt seit drei Jahren in Kirgistan. Sie ist beeindruckt vom Eifer der jungen Menschen, sagt aber auch: "Es gibt in Kirgistan kein Grundverständnis von Regierungsbildung, geschweige denn Demokratie."

Shakirat Toktosunova von der NGO "International Alert"; Foto: Marcel Fürstenau/DW
"Kirgisistan ist tatsächlich ein demokratisches Land", sagt Shakirat Toktosunova von der Nichtregierungsorganisation "International Alert". Sorgen macht sie sich aber wegen der Entwicklungen in Afghanistan. Nach der Machtübernahme der Taliban befürchten manche, die radikalen Islamisten könnten religiöse Eiferer in Kirgisistan inspirieren. "Es gibt Menschen, die befürchten, dass es hier schlafende Terrorzellen gibt." Aber so real die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung erscheinen mag, Shakirat Toktosunova gibt sich zuversichtlich: "Kirgisistan bleibt ein säkularer Staat."

Dabei gilt Kirgistan als das einzige halbwegs demokratische Land in Zentralasien, mit freien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Allerdings erreicht die Korruption schwindelerregende Ausmaße und keine Regierung seit der Unabhängigkeit 1991 hat sie in den Griff bekommen. Das gelang auch deshalb nicht, weil die politische Elite selbst oft als korrupt gilt. Machtmissbrauch und weit verbreitete Armut lösten schon mehrmals Revolutionen aus. 2005 führten sie zum Sturz des ersten kirgisischen Präsidenten Asker Akajew.



Der Islam und die Nähe zu Afghanistan

Dem nächsten Umsturz 2010 waren bürgerkriegsähnliche Unruhen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit im Süden des Landes vorausgegangen. Hunderte kamen dabei ums Leben, Zehntausende flüchteten. Über die Ursachen und möglichen Drahtzieher der Unruhen herrscht noch immer Unklarheit. Trotz solcher Rückschläge bleibt Shakirat Toktosunova von der Nichtregierungsorganisation "International Alert" zuversichtlich: "Kirgistan ist tatsächlich ein demokratisches Land", betont sie im Gespräch mit einer Besucher-Gruppe aus Deutschland, wohlwissend, dass ihre Gäste aus dem fernen Europa genau daran vielleicht zweifeln könnten.

Seit 2017 engagiert sich Shakirat Toktosunova im Projekt "Constructive Dialogues on Religion and Democracy in Kyrgyzstan". Im säkularen Kirgisistan sind etwa 75 Prozent der Einwohner muslimisch; die größte religiöse Minderheit ist christlich. Konflikte zwischen den Konfessionen gebe es, "aber in letzter Zeit sind sie zurückgegangen". Im Corona-Lockdown hätten Geistliche eine wichtige Rolle gespielt, um die Menschen via Internet mit wichtigen Informationen über die Pandemie zu versorgen. Digital ist das wirtschaftlich schwache Kirgistan vergleichsweise gut gerüstet. Das Smartphone ist allgegenwärtig.



Parlamentswahlen am 28. November 

Zwar sagt Shakirat Toktosunova, das Glas sei halb voll und nicht halb leer. Aber sie sorgt sie sich wegen der Entwicklungen weiter südlich: "Wir schauen natürlich nach Afghanistan, das nicht weit von uns entfernt ist." Nach der Machtübernahme der Taliban befürchten manche, die radikalen Islamisten könnten religiöse Eiferer in Kirgistan inspirieren. "Es gibt Menschen, die befürchten, dass es hier schlafende Terrorzellen gibt." Keine unbegründete Sorge - denn als die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) 2014 in Teilen Syriens und des Irak ihr Kalifat errichtete, sollen auch kirgisische Kämpfer dabeigewesen sein.

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Aber so real die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung erscheinen mag, Shakirat Toktosunova gibt sich zuversichtlich: "Kirgistan bleibt ein säkularer Staat." Dass die mit 30 Jahren noch immer sehr junge Demokratie insgesamt fragil ist, stimmt aber auch sie nachdenklich. Die Parlamentswahl im Oktober 2020 war überschattet von Manipulationsvorwürfen.

Massenproteste führten zum Rücktritt der Regierung und des Präsidenten; die Wahl wurde schließlich annulliert. Nun soll am 28. November ein neues Parlament gewählt werden.



Aus dem Gefängnis in den Präsidentenpalast

"Es ist uns nicht gelungen, etwas Beständiges aufzubauen", bedauert Shamil Ibragimov. Er leitet als Geschäftsführer den kirgisischen Ableger der Open Society Foundation des US-Milliardärs George Soros. Aber auch Ibragimov bekräftigt: "Wir haben im Unterschied zu unseren Nachbarn einen Nährboden für eine demokratische Gesellschaft." Wie tragfähig dieses Fundament auf Dauer ist, darüber lässt sich nur spekulieren.

Nimmt man die Wahlbeteiligung als Gradmesser, sieht es eher schlecht aus. Bei der später für ungültig erklärten Parlamentswahl in 2020 lag die Wahlbeteiligung nur noch bei 56 Prozent. Damit setzte sich ein langjähriger Abwärtstrend fort: 2010 waren immerhin noch 61 Prozent der Wähler zu den Urnen gegangen. Noch geringer war das Interesse bei der Präsidentschaftswahl im Januar dieses Jahres: Da gaben lediglich 39,5 Prozent ihre Stimme ab. Neues Staatsoberhaupt wurde Sadyr Dschaparow, der als Politiker schon mal ins Exil floh und nach seiner Rückkehr im Gefängnis landete.

Shamil Ibragimov von der Open Society Foundation blickt mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Die Regierung habe Angst vor dem Volk und das Volk keinen Respekt vor der Regierung. Spürbare Fortschritte kann er nirgends erkennen. "Wir haben versucht, das System der Korruption in der Justiz zu brechen", sagt Ibragimov. Mit Erfolg? Eher nicht. Ähnliches gilt aus seiner Sicht in der Wirtschaft: "Ich glaube, die Schattenwirtschaft ist so groß wie die reale Wirtschaft."

Infografik Karte von Kirgisistan und Umgebung; Quelle: DW
Ein Zwerg zwischen mächtigen Nachbarn: China im Osten, Russland im Norden und das von Konflikten zerrissene Afghanistan im Süden. In dieser geopolitischen Umgebung sucht das seit 1991 unabhängige Kirgistan seinen eigenen Weg. Russland ist auch militärisch mit Militärbasen in Kirgisistan und im benachbarten Tadschikistan präsent und spielt eine zentrale Rolle für Kirgistan. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sollen bis zu 1,5 Millionen Kirgisen als Arbeitsmigranten ihr Glück woanders suchen - fast ein Viertel der Bevölkerung!





Putins Image und Sowjet-Nostalgie

Die seit 1993 in Kirgistan engagierte Soros-Stiftung ist Rückschläge und Anfeindungen gewöhnt. Überhaupt ist die Skepsis gegenüber den vielen Nichtregierungsorganisationen in Kirgistan groß. Und was Leute wie Shamil Ibragimov zusätzlich beunruhigt, ist die Rolle Russlands in der Region. Hunderttausende Kirgisen arbeiten in Russland und lindern mit ihren Überweisungen in die Heimat die wirtschaftliche Not ihrer Familien. Kaum verwunderlich, dass Kreml-Chef Wladimir Putin in dem zentralasiatischen Land ein positives Image hat. Auch militärisch ist Russland präsent: mit Militärbasen in Kirgistan und im benachbarten Tadschikistan.   

Die populärsten TV-Sender in Kirgistan seien russische, hat Shamil Ibragimov beobachtet. "Offensichtlich sind sie es, die die Bilder in den Köpfen prägen." Dazu gehört auch eine große Portion Sowjet-Nostalgie, die in Gesprächen mit älteren Kirgisen zu spüren ist. Da bleibt den meist jüngeren Akteuren in zivilgesellschaftlichen Organisationen mitunter nur das Prinzip Hoffnung. Und das ist eng mit der Jugend verknüpft. Die Open Society Foundation hat extra ein Medien-Labor für Blogger und Podcaster gegründet. "Es ist unsere Aufgabe, sie zu unterstützen", sagt Shamil Ibragimov - und sieht dabei sehr nachdenklich aus.

Marcel Fürstenau

© Deutsche Welle 2021

Dieser Text ist im Rahmen einer einwöchigen Studienfahrt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur entstanden. Die aus Steuergeldern finanzierte Stiftung widmet sich seit 1998 der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in Deutschland und anderen Ländern.