Am Tiefpunkt angelangt

Seit Monaten protestieren die Bewohner von Gaza gegen ihre ausweglose Situation. Doch die Palästinenser haben längst jeden Fürsprecher verloren, meint Bettina Marx von der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Von Bettina Marx

Noch nie war die Lage der Palästinenser so aussichtslos wie heute. 70 Jahre nach der Staatsgründung Israels und 51 Jahre nach dem Sechstage-Krieg, in dem Israel sich die palästinensischen Gebiete im Westjordanland und in Gaza angeeignet hat, stehen sie buchstäblich vor dem Nichts. Alle Hoffnungen auf einen eigenen Staat haben sich nicht erfüllt. Der sogenannte Friedensprozess, der vor 25 Jahren mit den Oslo-Verträgen begonnen hat, muss inzwischen als gescheitert angesehen werden. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon hatte ihn schon im Januar 2001 für tot erklärt.

Heute scheut sich sein Nachfolger, Regierungschef Benjamin Netanjahu, nicht mehr, die dem Friedensprozess zu Grunde liegende Idee der Schaffung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels offen abzulehnen. Bei seinem kürzlichen Besuch in Berlin leugnete er sogar, dass Israel die palästinensischen Gebiete überhaupt besetze. Vor der Presse sagte er, Abraham sei schon vor 4.000 Jahren in das Land zwischen Mittelmeer und Jordan gekommen und habe damit den jüdischen Anspruch begründet. Nur zufällig hielten sich in seinem Land auch Palästinenser auf.

Bittere Folgen für die Palästinenser

Doch so bizarr diese Auffassung klingen mag, für die Palästinenser hat sie bittere Folgen. Denn sie bedeutet, dass ihre Existenz von Israel nur geduldet wird, dass ihre Ansprüche auf ihre Heimat, auf Gleichberechtigung und nationale Selbstbestimmung von Israel nicht anerkannt werden. Ihr im Völkerrecht verbriefter Widerstand gegen die Besatzung wird von Israel als illegitimer Aufstand gegen die rechtmäßigen Herren des Landes und als Terrorismus angesehen und entsprechend verfolgt.

Die israelischen Gefängnisse sind voll von Palästinensern, die sich nicht unter das israelische Joch beugen wollen. Selbst Minderjährige werden vor die Militärgerichte gestellt, die mit einer Verurteilungsquote von fast 100 Prozent aufwarten können. Jede Nacht durchstreifen schwer bewaffnete Militärpatrouillen die besetzten Gebiete, reißen Familien aus den Betten, fotografieren Jugendliche, um sie später als Steinewerfer identifizieren zu können und verhaften junge Männer und zunehmend auch Frauen.

Selbst Ramallah, die Stadt, in der die palästinensische Autonomiebehörde ihren Sitz hat und die nach den Oslo-Verträgen unter ausschließlicher palästinensischer Verwaltung und Sicherheitskontrolle steht, bleibt nicht verschont von diesen nächtlichen Razzien. In den Dörfern des Westjordanlandes, dort wo die Palästinenser seit Beginn des Friedensprozesses immer mehr Land an die Siedler verlieren, dort, wo ihnen der Zugang zu ihren Feldern und Brunnen verwehrt wird, werden Jugendliche, die gegen die Besatzungsarmee aufbegehren, verhaftet oder erschossen.

Erneute Proteste an der Grenze des Gaza-Streifens am 8. Juni 2018; Foto: picture-alliance/H.Salem
Neuerliche Gewaltspirale im Gaza-Streifen: Bereits seit 30. März haben Zehntausende Palästinenser an der Grenze zu Israel protestiert. Sie fordern ein Recht auf Rückkehr in das heutige israelische Staatsgebiet. Dabei hatten sie auch der Vertreibung und Flucht Hunderttausender im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 gedacht, vor 70 Jahren. Bei massiven Zusammenstößen mit der israelischen Armee töteten Soldaten mehr als 120 Palästinenser. Tausende wurden verletzt.

Am Rand des Gazastreifens wurden bei den Protesten der vergangenen Wochen mehr als 100 Menschen von israelischen Scharfschützen getötet. Unter den Opfern waren auch Behinderte, Journalisten, Sanitäter und Kinder. Israel habe genug Kugeln für jeden Demonstranten, sagte der Likud-Abgeordnete Avi Dichter. Und die Armee twitterte, man reagiere akkurat und maßvoll und wisse genau, wo jede Kugel lande.

Alleingelassen von der Welt

Doch nicht nur Israel zerstört die palästinensischen Hoffnungen auf Freiheit und Selbstbestimmung. Auch die arabische Welt hat sich weitgehend von den Palästinensern abgewandt. Ägypten ist nur an Stabilität im eigenen Land und Ruhe im Sinai interessiert, die Rechte der Palästinenser interessieren Präsident Sisi so wenig wie die Menschenrechte seiner eigenen Bevölkerung.

Saudi-Arabien und die Emirate streben offen die Aufnahme von diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Israel an und sind bereit, dafür die Solidarität mit den Palästinensern zu opfern. Auch die internationale Staatengemeinschaft entzieht sich zunehmend ihrer Verantwortung. Die USA unter Trump haben sich klar auf die Seite Israels geschlagen.

Mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels haben sie die legitimen palästinensischen Ansprüche vom Tisch gewischt. Und mit der Reduzierung der Gelder für das UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge UNRWA, stürzen sie Hunderttausende Menschen in Gaza, dem Westjordanland und den Nachbarstaaten in existenzbedrohende Armut.

70 Jahre nach der israelischen Staatsgründung und der damit einhergehenden palästinensischen Katastrophe von Flucht und Vertreibung sind die Palästinenser am Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt: ohne Aussichten auf nationale Selbstbestimmung, ohne Unterstützer und Freunde.

Doch trotz dieser düsteren Aussichten bleibt ein Hoffnungsschimmer bestehen, denn die palästinensische Bevölkerung zwischen Mittelmeer und Jordan ist allen Widrigkeiten zum Trotz auf 6,5 Millionen angewachsen. Millionen Menschen, die in diesem Land fest verwurzelt sind und die nicht verschwinden werden, egal, wie verlassen sie sind und egal, wie sehr ihr Schicksal weltweit in Vergessenheit gerät.

Bettina Marx

© Deutsche Welle 2018