Der Koran bedarf der Auslegung

Besitzt die islamische Theologie argumentative Ressourcen, um der Behauptung entgegenzutreten, im Namen des Islams ausgeübte Gewalt sei durch Koranverse gedeckt? Ja, sagt die Islamwissenschafterin Katajun Amirpur und weist auf einen offenen Brief muslimischer Gelehrter hin.

Von Katajun Amirpur

Noch immer fordern Politiker und Publizisten eine Distanzierung der Muslime vom Terror des Islamischen Staates. Von ihnen weithin unbeachtet haben jedoch praktisch alle relevanten muslimischen Verbände, vor allem aber auch die islamischen Autoritäten bis hin zu dezidiert konservativ-traditionalistischen Kreisen diese Organisation als barbarisch und unislamisch verdammt.

Wenn Islamkritiker dies ignorieren und eine Nähe der Grundprinzipien des Islams zum IS-Terror behaupten, entspricht ihr Islambild in gewisser Weise dem der Fundamentalisten. Mit dem Islam der allermeisten Muslime und ihrer Autoritäten hingegen hat dieses Bild nicht viel zu tun.

Der Brief an den Terroristen

Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der vor einigen Wochen veröffentlichte Brief an den Anführer der Terrororganisation (http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis) , verfasst von über hundertzwanzig namhaften Gelehrten, die größtenteils aus einem konservativen Spektrum des Islams kommen. Es setzen sich darin also nicht etwa moderne Reformer oder islamische Aufklärer im Detail mit der Ideologie und den Koran-Bezügen des IS auseinander, sondern islamische Autoritäten, die sich innerhalb einer dezidiert orthodoxen Denkstruktur bewegen.

Der Großmufti von Ägypten, Scheich Shawqi Allam, ist darunter, ebenso wie Scheich Ahmad Al-Kubaisi, der Gründer der Vereinigung der Religionsgelehrten (Ulama) des Iraks. Es finden sich unter ihnen außerdem Gelehrte vom Tschad über Nigeria bis zum Sudan und Pakistan. Offensichtlich ist es ihnen ein Bedürfnis, dass sich die islamische Theologie eindeutig gegenüber den Terroristen positioniert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Gelehrte an Terroristen schreiben?

IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi; Foto: picture alliance/AP
Abgesprochene Legitimität: "Der 1971 im Irak geborene Abu Bakr al-Baghdadi wird von den Briefschreibern nicht als Kalif angesprochen. Denn, so die Verfasser, nach islamischem Recht kann die Ausrufung eines Kalifats, also die Bestimmung der politischen Nachfolger des Propheten, nur im Konsens mit allen Muslimen erfolgen", so Amirpur.

Der Brief ist 25 Seiten lang, adressiert an: "Dr. Ibrahim Awwad al-Badri, alias 'Abu Bakr al-Baghdadi'" und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten Islamischen Staates. Die eigentlich Angesprochenen sind jedoch sicher die Muslime, von denen die Autoren befürchten, dass sie in die Fänge der IS-Propaganda geraten könnten.

Der 1971 im Irak geborene al-Baghdadi, der sich "Abu Bakr" nach dem ersten Kalifen des Islams nennt und "al-Baghdadi", um damit seinen Anspruch auf Bagdad, die Hauptstadt der Abbasiden-Kalifen, geltend zu machen, wird von den Briefschreibern nicht als Kalif angesprochen. Denn, so die Verfasser, nach islamischem Recht kann die Ausrufung eines Kalifats, also die Bestimmung der politischen Nachfolger des Propheten, nur im Konsens mit allen Muslimen erfolgen.

Der Text nennt zusammenfassend 24 Vergehen, deren sich der sogenannte Islamische Staat schuldig macht: "Es ist im Islam verboten, Sendboten, Botschafter und Diplomaten zu töten; somit ist es auch verboten, Journalisten und Entwicklungshelfer zu töten." Oder: "Es ist im Islam verboten, Christen und allen anderen 'Schriftbesitzern' – in welcher Art auch immer – zu schaden oder sie zu misshandeln."

Daran anschließend wird jede Aussage ausführlich begründet: So wird als Pflicht aller Muslime bezeichnet, die Jesiden als Schriftbesitzer zu erachten. Dementsprechend sei es illegitim, sie zu Ungläubigen zu erklären oder gar als vogelfrei zu behandeln. Warum? "Aus islamrechtlicher Sicht sind diese Menschen 'Majus', über die der Prophet [. . .] sagte: "Behandelt sie wie die Schriftbesitzer."

Mit Fußnoten wird fein säuberlich belegt, woher die Zitate stammen. In diesem Falle findet sich das Hadith bei Imam Malik und Imam al-Shafi'i, zweien der vier Gründer der vier sunnitischen Rechtsschulen.

Eine Interpretationsmaxime

Außerdem gehen die Verfasser darauf ein, welches die Voraussetzungen für die islamische Rechtsprechung sind. Indirekt sprechen sie dem selbsternannten Kalifen damit jegliche Autorität und Kompetenz dafür ab, rechtsverbindliche Aussagen zu treffen.

Gemäß den Autoren besagt die im Koran durch Gott und in den Hadithen durch den Propheten festgesetzte Auslegungsmethode: Alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Der Fokus darf nicht auf einzelnen Fragmenten liegen. Hervor geht diese Methode aus der Schrift selbst, unter anderem aus dem folgenden Koranvers: "Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?" (Sure 2, 85).

Wenn alle relevanten Textstellen zusammengebracht sind, muss das "Allgemeine" vom "Spezifischen" und das "Bedingte" vom "Absoluten" unterschieden werden. So müssen auch die eindeutigen Verse gesondert werden von den mehrdeutigen.

Jemenite studiert Koran in Sanaa; Foto: Reuters
Gemäß den Autoren besagt die im Koran durch Gott und in den Hadithen durch den Propheten festgesetzte Auslegungsmethode: Alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden.

Daraufhin müssen die "Anlässe der Offenbarung", die "asbab al-nuzul", für all diese Verse sowie alle anderen Auslegungsbedingungen, welche die "klassischen" Gelehrten festgelegt haben, einbezogen werden. Erst dann wird – sich auf alle vorhandenen schriftlichen Quellen stützend – Recht gesprochen oder eine Interpretation gegeben.

Es ist also, kurz gesagt, nicht gestattet, einen Vers zu zitieren, ohne den gesamten Koran und alle Überlieferungen zu beachten. Die Verfasser des Briefes bezeichnen es als Pflicht, alle Texte so weit wie möglich miteinander in Einklang zu bringen, und berufen sich mit dieser Ansicht auf Imam al-Shafi'i und auf einen universellen Konsens unter allen Gelehrten der Rechtstheorie.

Sure 22, 39

In diesem Zusammenhang setzen sich die Briefschreiber auch mit den Versen des Korans auseinander, die Gewalt scheinbar legitimieren: "Denen, die bekämpft werden, wurde es erlaubt (zu kämpfen), weil man ihnen Unrecht tat." (Sure 22, 39)

Dieser und ähnliche Verse der zweiten Sure werden meist zitiert – von Islamkritikern im negativen Sinne, von Dschihadisten im positiven –, um die angeblich dem Islam innewohnende Gewaltbereitschaft zu belegen. Die Gelehrten beziehen sie jedoch ausschließlich auf ein bestimmtes Ereignis, den "Offenbarungsanlass".

Es geht in dieser Perspektive nur um folgende konkrete politische Situation: Im Jahre 630 marschierte der Prophet in Mekka ein, um die heidnischen Mekkaner zu bekämpfen – und brach damit einen Friedensvertrag, den er selbst zwei Jahre zuvor geschlossen hatte. Deshalb bedurfte sein Handeln einer Legitimation, die der Vers liefert. Und gemeint war: Die Mekkaner durften bekämpft werden, weil sie sich zuvor an der Gemeinde des Propheten "versündigt" hatten. Sie hatten seine Anhänger vertrieben und ihn selbst töten wollen.

Eine allgemeine Anweisung für alle Muslime lässt sich aus dem Vers folglich nicht ableiten. Die Briefschreiber erklären ausdrücklich: "Daher ist der Jihad an das Fehlen von Sicherheit, das Berauben der Freiheit der Religion oder an (vorausgegangene) Ungerechtigkeit sowie an das Vertrieben-Werden aus dem eigenen Land geknüpft. Diese Verse wurden offenbart, nachdem der Prophet [. . .] und seine Gefährten dreizehn Jahre lang Folter, Mord und Verfolgung durch die Hände der Götzendiener ausgesetzt waren. Es gibt keinen offensiven und aggressiven Dschihad, nur weil die Menschen einer anderen Religion angehören oder eine andere Meinung vertreten."

Ägyptens Großmufti Shawqi Ibrahim Abdul Kareem Allam; Foto: picture alliance/dpa/Julien Warnand
Gegenwind für den "Islamischen Staat":Der ägyptische Großmufti hat eine umfassende Kritik der Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) veröffentlicht. In dem 217 Seiten umfassenden Buch mit dem Titel «The Ideological Battlefield» (Das ideologische Schlachtfeld) spricht der Geistliche und Islamgelehrte Schawki Ibrahim Allam den militanten Islamisten jede religiöse Legitimation ab.

Diese Lesart ist keineswegs modern oder westlich inspiriert. Denn hier wird eine Methode angewendet, die es bereits seit Jahrhunderten in der islamischen Theologie gibt. Ein ganzer Zweig von ihr beschäftigt sich mit den besagten Anlässen für die Offenbarung. Schon immer ging man also von einer Art dialektischer Beziehung zwischen Text und Adressat aus und forschte nach dem Kontext, in den hinein ein Vers offenbart wurde, um seinen Sinn und seinen Wirkungsbereich besser verstehen zu können.

Ein Einzelfall wie der, den die Sure beschreibt, kann dabei nicht als Präzedenzfall für andere, in der Sache ähnliche Situationen gelten. Zwar ist das islamische Recht wesentlich durch ein Denken in Präzedenzfällen bestimmt, aber, wie die Briefschreiber formulieren: "Es ist nicht gestattet, einen bestimmten Vers des Korans auf eine Begebenheit zu beziehen, die 1.400 Jahre nach seiner Offenbarung geschehen ist."

Problematisches

Wie der Brief zeigt, besitzt die islamische Theologie genügend argumentative Ressourcen, um dem sogenannten Islamischen Staat entgegenzutreten. Dennoch findet sich im Ansatz der Briefschreiber noch genug Problematisches aus liberaler Sicht.

So halten die Autoren etwa an der Gültigkeit der Körperstrafen fest, wenn sie deren Anwendung auch an strenge Kriterien binden. Ebenso wenden sich die Briefeschreiber zwar gegen sexuelle Gewalt, wenn sie die Wiedereinführung der Sklaverei kritisieren, und dagegen, dass man Frauen ihre Rechte vorenthält. Doch ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung sucht man vergeblich.

Die Briefeschreiber sind, was Frauenrechte anbelangt, offensichtlich noch traditionellen Strukturen verhaftet. Hier muss weitergedacht werden. Es muss klar Position bezogen und gesagt werden, dass auch Körperstrafen und Geschlechterdiskriminierung im 21. Jahrhundert nicht nur nicht mit den Werten des Westens, sondern auch mit dem Ethos des Islams nicht vereinbar sind.

Der Koran; Foto: AFP
Wegbereiter einer pluralistischen Religionstheologie: Der Pakistaner Fazlur Rahman hat eine Interpretationsmethode entwickelt, um die Botschaft des Korans in die heutige Zeit zu übertragen, auch "Double Movement" genannt.

Andere Denker und Denkerinnen haben Farbe bekannt. Iranische Frauenrechtlerinnen beispielsweise fordern Gleichberechtigung und argumentieren mit dem Geist des Korans. Der Koran habe historisch zunächst die Situation von Frauen verbessert, jedoch nicht zur vollständigen Gleichberechtigung geführt, die der damaligen Gesellschaft nicht vermittelbar gewesen wäre. Dennoch sei aber Gerechtigkeit als Ziel der Prophetie klar zu erkennen. Und in diesem Sinne müsse heute Gleichberechtigung verwirklicht werden.

Andere wie der Pakistaner Fazlur Rahman haben eine Interpretationsmethode entwickelt, um die Botschaft des Korans in die heutige Zeit zu übertragen. "Double Movement" nannte Rahman sie: Man müsse zuerst den Kontext studieren, in den hinein der Koran verkündet worden sei; so könne man die ursprüngliche Botschaft verstehen. Daraus ließen sich dann in einer zweiten Bewegung die Prinzipien und Werte gewinnen, die heute als Normen im Sinne des Korans gelten könnten.

Offenbarung und Geschichte

Fazlur Rahman und mit ihm die Schule von Ankara, deren moderne Koran-Hermeneutik sehr von ihm geprägt wurde, gehen inhaltlich deutlich weiter als die traditionell denkenden Verfasser des Briefes; beispielsweise gelangt Rahman über seinen "Double Movement"-Ansatz zu einer pluralistischen Religionstheologie.

Dennoch aber setzen auch die Briefschreiber einen Bezug von Offenbarung und Geschichte voraus und bestehen auf der Notwendigkeit, selbst scheinbar klare Verse einer detaillierten sprachlichen und historischen Interpretation im Horizont des Gesamtkontextes zu unterziehen, statt sie einfach wörtlich zu verstehen. Dagegen ist das Verfahren, sich einzelne Verse aus dem Koran herauszupicken, um eine bereits vorgefasste These zu belegen, wie es einige Islamkritiker und die Fundamentalisten gleichermaßen praktizieren, aus islamisch-theologischer Sicht grotesk und ein Zeichen der Ignoranz.

Katajun Amirpur

© Qantara.de 2014

Dr. Katajun Amirpur ist Professorin für islamische Studien und islamische Theologie an der Universität Hamburg. 2013 ist bei C. H. Beck ihr Buch "Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte" erschienen.