"Nach Tadmor kommst du zum Sterben"

Seit Mitte Mai kontrolliert der "Islamische Staat" Palmyra. Doch für viele Syrer wurde die Stadt schon lange zuvor zur Hölle. Im berüchtigten Gefängnis von Tadmor foltere das Regime zehntausende Menschen. Bara Sarraj, der heute in Chicago lebt, war einer von ihnen. Mit ihm hat sich Fabian Köhler unterhalten.

Von Fabian Köhler

Was ist das für ein Gefühl, wenn man hört, dass das Gefängnis, in dem man einst saß, ausgerechnet vom "Islamischen Staat" befreit wurde?

Bara Sarraj: Ich denke nicht, dass man von Befreiung sprechen kann. Zuletzt waren wohl nur noch sehr wenige Häftlinge in dem Gebäude, denen die Wärter nicht erlaubt haben zu fliehen. Die Armee ist einfach abgehauen. Sie hätten den IS angreifen können, doch stattdessen haben sie sich einfach zurückgezogen. Niemand kann darüber froh sein.

Sie leben seit 20 Jahren in den USA. Haben Sie verfolgt, was seit Beginn der Proteste in Tadmor passiert ist?

Sarraj: Ja. Bekannte haben mir erzählt, dass zuletzt bis zu 11.000 Menschen dort inhaftiert gewesen sein sollen. Das wäre wirklich ein Wahnsinn. Als man mich in dem Gefängnis einsperrte, waren dort bereits viel zu viele Menschen – etwa 5.000 Inhaftierte. In den letzten Monaten soll es in dem Gefängnis pausenlos Erschießungen gegeben haben.

Vor über 30 Jahren herrschte in Syrien schon einmal Krieg. Das Regime kämpfte damals gegen die Muslimbrüder. In diese Zeit fällt auch Ihre Verhaftung …

Sarraj: Es war der 5. März 1984. Ich studierte im zweiten Jahr Elektrotechnik in Damaskus und war auf dem Weg zu meinem Seminar. Mitarbeiter des Geheimdienstes hatten mich am Tor zur Universität festgehalten und mitgenommen. Das war damals so üblich. 1963 hatte das Regime den Ausnahmezustand verhängt. Jeden Tag verschwanden Menschen spurlos. Vor meiner Uni haben sie immer wieder Studenten mitgenommen. Und an diesem Tag war ich dran.

Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Sarraj: Ich hatte in einer Moschee gebetet. Das reichte damals schon aus. Andere wurden festgenommen, weil sie im Bus das falsche Buch lasen. Aus der Sicht des Regimes war zu dieser Zeit jeder ein potenzieller Islamist oder was auch immer.

Sprengung des Tadmor-Gefängnisses durch den "Islamischen Staat"; Quelle: Wilayat Media Group/Twitter
Verhasstes Symbol der brutalen Baath-Diktatur der Assads: "Die Terrormiliz Islamischer Staat" hatte Ende Mai das berüchtigte Tadmor-Gefängnis in der syrischen Oasenstadt Palmyra gesprengt. Bereits 2001 hatte "Amnesty International" das Hochsicherheitsgefängnis als Ort beschrieben, der "bei den Gefangenen das größte Leid, die größten Erniedrigungen und die größten Ängste" hervorrufen sollte.

Und Sie wurden daraufhin direkt nach Tadmor gebracht?

Sarraj: Zuerst verbrachte ich ein paar Tage in einem Gefängnis in Damaskus, dann in Hama. Ich wurde zunächst einige Stunden lang geschlagen, dann verhörten sie mich. Dann gab es wieder Schläge.

Was wollte man von Ihnen?

Sarraj: Sie wollten Namen. Es ging immer um Namen. Sie wollten vor allem die Namen von Bekannten. Und irgendwann gabst du sie ihnen, wobei man keine Ahnung hatte, was sie daraus machten. Am Ende bekam ich ein dreiseitiges Geständnis vorgelegt, das ich nicht lesen durfte, mit meinem Fingerabdruck drauf. Das war dann der Beginn meiner zwölfjährigen Haft.

In einem Amnesty-Bericht ist die Rede von einer Foltermethode namens "Istiqbal", mit der jeder neue Gefangene in Tadmor "empfangen" wird. Haben Sie diese Tortur auch durchleben müssen?

Sarraj: Ja. Die Wärter sagten, es sei Usus, die Häftlinge zuerst mit der Gewalt im Gefängnis vertraut zu machen. Ich wurde an 20 weitere Häftlinge gekettet. Anschließend wurde einer von uns vom LKW gestoßen, wobei dann alle hinterher fielen. Dann steckten sie dich mit Füßen und Kopf zuerst durch einen engen Reifen - wie bei einem Sandwich. Zwei bis vier Männer schlugen dann auf dich ein. Manche Häftlinge konnten danach nie wieder laufen, andere starben durch die "Istiqbal"-Folter bereits kurz nach ihrer Ankunft im Gefängnishof.

Wie erlebten Sie den Alltag in einem der schlimmsten Gefängnisse der Welt?

Sarraj: Die Tage in Tadmor waren lang – oft sehr lang. Das Leben bestand aus Folter und aus der Zeit, die einem blieb, bis zur Folter. Zum Aufstehen gab es Schläge, während des Essens, während wir uns rasierten. Die Zellen waren oft so voll, dass wir uns Fuß an Fuß aneinander drängten. Zum Essen gab es drei Oliven pro Person, ein Ei teilten wir uns zu acht und dazu etwas Bulgur, Reis oder Brot, auf das die Wärter oft urinierten.

Syrischer Ex-Häftling Bara Sarraj; Foto: Bara Sarraj
Im Vorhof der Hölle: Bara Sarraj wurde am 5. März 1984 in Damaskus festgenommen und ins Hochsicherheitsgefängnis Tadmor verschleppt, wo er mehrfach gefoltert wurde. Erst 1995 kam er im Zuge einer Gefangenen-Amnestie unter dem früheren Diktator Hafis al-Assad frei. Heute lebt er in Chicago.

Wie überlebt man das – auch psychisch?

Sarraj: Der Weg zum Überleben war für mich der Koran. Die meiste Zeit las ich in ihm und lernte ihn auswendig. Etwas anderes, womit man sich von den Schreien der Häftlinge ablenken konnte, gab es nicht. Mit der Zeit lernte man einfach, sich in Geduld zu üben. Das Sprechen mit anderen Insassen war ja ebenfalls verboten. Wenn man dich dabei erwischte, verprügelten sie dich. Einen Häftling baten sie beispielsweise, sich auf den Rücken zu legen. Dann sprang einer der Wärter auf seinen Bauch. Wenige Stunden später war er tot. Oder sie brachen einem die Finger im Fenster der Zellentür. Ein Wärter des Gefängnisses hatte 1989 rund 100 Häftlinge getötet.

Wir haben versucht, uns zu organisieren und darüber abgestimmt, wer welche Aufgaben übernehmen soll. Einer war dafür verantwortlich, dass Essen zuzuteilen. Einer war der Toilettenputzer. Einer wachte darüber, dass das Flüstern nicht zu laut wurde. Und der "Zellenpräsident" kontrollierte alles.

Ihre erste demokratische Wahl fand unter Menschen statt, die das Regime als "Staatsfeinde" aus der Gesellschaft aussortiert hatte.

Sarraj: Ja, das kann man so sagen.

1995 erließ der damalige Präsident Hafis al-Assad eine Gefangenen-Amnestie und Sie kamen schließlich frei.

Sarraj: Ja, ich wurde 1993 und 1995 wiederholt verhört und mit 1.500 anderen Häftlingen aus ganz Syrien freigelassen. Aber mit Gerechtigkeit hatte das nichts zu tun. Die Amnestie erfolgte genauso willkürlich wie die damaligen Verhaftungen.

Wurde Ihre Familie über Ihren Gefängnisaufenthalt informiert?

Sarraj: Nein. Seit dem Tag meiner Verhaftung hatte man ihnen nie etwas über meinen Aufenthalt in Tadmor erzählt. Ende der 1980er Jahre waren sie zu Verwandten nach Chicago gezogen. Und 1996 versuchte ich dann, Syrien zu verlassen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das tatsächlich schaffen würde. Am Flughafen in Chicago sah ich dann zum ersten Mal nach langer Zeit meine Mutter wieder.

In den USA wurden Sie schließlich Dozent im Bereich Mikrobiologie. Wie kam es dazu?

Sarraj: Ich habe an der Harvard-Universität Biologie und Chemie studiert. 2006 machte ich meinen Doktor und lehre heute in Chicago. Oft bringe ich ganze Nächte im Labor über meiner Forschungsarbeit zu. Das gefällt mir. Ich war schon immer gern allein. Deshalb war die Zeit in den überfüllten Gefängniszellen vor allem zu Beginn meiner Haft alles andere als einfach für mich.

Wie geht es Ihnen heute?

Sarraj: Gut. Ich bin wissenschaftlich erfolgreich. Nach der Arbeit spiele ich mit meinen beiden Katzen. Ich gehe gern mit meiner Frau in arabische Restaurants und reise viel. Ich führe ein schönes Leben. Aber irgendwann möchte dennoch wieder nach Syrien zurückkehren. Das wäre mein größter Wunsch.

Das Interview führte Fabian Köhler.

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