"Putsch an Uneinigkeit gescheitert"

Die Putschisten stammten aus zwei verschiedenen Lagern, sagt der türkische Journalist Ahmet Şık. Deshalb, sagt er, konnte Präsident Erdoğan sie entzweien und den Staatsstreich zum Scheitern bringen. Beklan Kulaksizoglu hat sich mit Ahmet Şık unterhalten.

Von Beklan Kulaksizoglu

Die türkische Regierung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putsch verantwortlich. Teilen Sie diese Meinung?

Ahmet Şık: Wenn man die Dokumente und Informationen, die nun nach und nach an die Öffentlichkeit kommen, betrachtet, sieht es so aus, dass die Gülen-Bewegung tatsächlich hinter dem Umsturzversuch steckt. Wobei ich betonen will, dass die Korrektheit dieser Angaben fragwürdig ist. In jedem Fall bezweifele ich, dass die Gülenisten allein waren. Ich denke, es gab ein Bündnis innerhalb des Militärs und die Gülisten gehörten zu den Drahtziehern. Allerdings haben sich die Mitglieder des Bündnisses in der Nacht vor dem Putschversuch und während der anschließenden Ereignisse gegenseitig verraten.

Wer glauben Sie war außerdem Teil dieses Bündnisses?

Şık: Wer die einzelnen Gruppen waren, kann man noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Namen der bereits Inhaftierten sagen mir aber Folgendes: Es waren allerdings Neo-Nationalisten darunter, die während der sogenannten Ergenekon- oder Balyoz-Prozesse Opfer der Gülenisten wurden.

Konspiration und „tiefer Staat“: Ergenekon war eine mutmaßliche Geheimorganisation aus säkularen, nationalistischen Kreisen des Militärs. Im Jahr 2012 lancierte die Erdoğan-regierung eine Kampagne gegen hunderte Militärangehörige. Unter dem Vorwurf, als Teil eines geheimen Netzwerks namens Ergenekon einen Umsturz zu planen, wurde zahlreichen Offizieren der Prozess gemacht. Fast alle Inhaftierten kamen frei, da die Beweismaterialien für gefälscht befunden wurden. Unter dem Namen Balyoz sollten Militärs detailliert einen Putsch vorbereitet haben. Der Plan entpuppte sich aber offenbar als Teil eines taktischen Seminars. Letztlich wurden alle Anklagen fallengelassen. Zu dieser Zeit besetzten Gülenisten viele Ämter im türkischen Staatsdienst, vor allem in Justiz und Polizei, Foto: Reuters
Konspiration und „tiefer Staat“: Ergenekon war eine mutmaßliche Geheimorganisation aus säkularen, nationalistischen Kreisen des Militärs. Im Jahr 2012 lancierte die Erdoğan-regierung eine Kampagne gegen hunderte Militärangehörige. Unter dem Vorwurf, als Teil eines geheimen Netzwerks namens Ergenekon einen Umsturz zu planen, wurde zahlreichen Offizieren der Prozess gemacht. Fast alle Inhaftierten kamen frei, da die Beweismaterialien für gefälscht befunden wurden. Unter dem Namen Balyoz sollten Militärs detailliert einen Putsch vorbereitet haben. Der Plan entpuppte sich aber offenbar als Teil eines taktischen Seminars. Letztlich wurden alle Anklagen fallengelassen. Zu dieser Zeit besetzten Gülenisten viele Ämter im türkischen Staatsdienst, vor allem in Justiz und Polizei.

Laut Medienberichten erkannte man am 15. Juli erste Aktivitäten am frühen Nachmittag. Die Regierung soll demnach gegen 15 Uhr davon erfahren haben. Ich vermute, dass die Regierung daraufhin begann, mit Teilen des Bündnisses zu verhandeln. Das war vermutlich entscheidend für den Zerfall des Bündnisses und das Scheitern des Putschversuchs.

Sie beschreiben hier ein Bündnis zwischen Gülenisten- und Kemalisten-Lager, also zwischen Islamisten und Laizisten …

Şık: Ja, das ist gar nicht so abwegig. Die Gruppen teilen eine starke Abneigung gegen die Regierungspartei AKP und ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wobei Kemalisten nicht der richtige Ausdruck ist, wenn man berücksichtigt, aus welchen politischen Lagern sie stammen. Sprechen wir also lieber von Gülenisten und Nicht-Gülenisten.

Wie wird es politisch weitergehen? Derzeit sind alle davon überzeugt, dass der gescheitere Putsch Erdoğans Macht noch weiter stärken wird. Wie wird er das nutzen?

Şık: Schon jetzt sind über 2.500 Justizbeamte suspendiert. Das ging deshalb so schnell, weil ihr Schicksal schon lange beschlossen war, die regierungstreuen Medien hatten bereits darüber berichtet. Die Liste der Verdächtigen basierte auf Informationen von regierungstreuen und -nahen Justizbeamten und enthält Namen linker und sozialdemokratischer Oppositioneller. Die Regierung hat nun die Gelegenheit genutzt und gehandelt. Aber auch ohne den Putschversuch hätte man diese Richter und Staatsanwälte aus dem Verkehr gezogen, nur hätte das dann wohl für großes Aufsehen gesorgt.

Fethullah Gülen; Foto: picture-alliance/dpa/Fgulen.Com
Erdoğan-Widersacher Fethullah Gülen: Seit dem Putschversuch in der Türkei geht die türkische Regierung mit harter Hand gegen Anhänger des Predigers Fethullah Gülen vor, den sie für den Verantwortlichen hält. Der 75-jährige Gründer der einflussreichen Hizmet-Bewegung, der seit 1999 zurückgezogen im Exil in Pennsylvania lebt, bestreitet jede Verwicklung. In der "New York Times" warf Gülen seinem einstigen Verbündeten und heutigen Gegner Erdogan vor, eine "Diktatur" zu errichten, die "die Bevölkerung polarisiert" und "die Fanatiker befeuert".

Die Niederschlagung des Militärputsches hat also keineswegs zur Gesundung der Demokratie beitragen. Ich glaube, die Situation wird sich noch weiter verschlechtern, denn das Modell, das die Regierung vor Augen hat, ist - völlig unabhängig von dem Putschversuch - ein Einparteienstaat mit Erdoğan als Staatsoberhaupt. Der misslungene Staatsstreich bietet für ihn eine treffliche Gelegenheit. Denn im Moment scheint der Verwirklichung dieses Plans nichts mehr im Weg zu stehen. Jeder der sich dagegen stellt, kann ganz einfach als Putschist denunziert und verhaftet werden. In solch einer Situation ist es unmöglich von Demokratie zu sprechen. Und es gibt noch viele weitere Gründe für uns, pessimistisch zu sein.

Wer geht noch als Sieger aus dem Putschversuch hervor?

Şık: Meiner Meinung nach ist das Militär selbst Sieger der gescheiterten Revolte. Der einzige Grund für das Scheitern war das Zerbrechen der Allianz. Hätte es gehalten, wäre der Putsch zweifellos erfolgreich gewesen. Das hätte nicht einmal die AKP verhindern können, die unter den größten politischen Mächten in der türkischen Geschichte rangiert. Diese Botschaft hat das Militär mit dem Aufstand durchaus an die Regierung gesendet. Falls das Militär es schafft, als Einheit zu agieren, wenn es darum geht Staat und Politik zu verwalten, kann es wieder zum politischen Partner der Regierung werden.

Das Interview führte Beklan Kulaksizoglu.

© Qantara.de 2016

Ahmet Şık ist investigativer Journalist. Im März 2011 wurde er bei der Recherche für sein Buch "Die Armee des Imam" verhaftet. Das Buch erzählt vom Leben und Werk des Predigers Fetullah Gülen. Die AKP-Regierung behauptete, dass es sich bei seinem Buchentwurf um ein illegales Dokument der Untergrundorganisation Ergenekon handelte.