Zwischen Fürsorge und Kontrolle

Mit einer Reihe von digitalen Maßnahmen als Reaktion auf die Corona-Krise erschafft Marokko einen Trade-Off zwischen Ansätzen der kurzfristigen Fürsorge und dem parallelen Ausbau digitaler Kontrolle. Von Anja Hoffmann und Bauke Baumann

Von Anja Hoffmann & Bauke Baumann

Das Königreich Marokko hat schnell und entschieden auf die Bedrohung der Corona-Pandemie reagiert. Obwohl die offiziellen Infizierten-Zahlen noch vergleichsweise niedrig sind, hat das Land den Notstand ausgerufen und seit dem 20. März eine strikte einmonatige Ausgangssperre erlassen.

Alle nationalen und internationalen Flüge, Zug- und Fährverbindungen wurden ausgesetzt. Die Marokkanerinnen und Marokkaner dürfen das Haus nur noch für Lebensmitteleinkäufe, medizinische Notfälle und in begründeten Fällen für den Gang zur Arbeit verlassen. Polizei und Militär überwachen die Ausgangssperre konsequent. Allein auf dem Weg zum Supermarkt muss der von den Behörden gestempelte Passierschein in der Regel mehrfach an verschiedenen Checkpoints vorgezeigt werden.

Digitale Lösungen für Erwerbsausfälle im informellen Sektor

Marokko hat allen Grund sich vor dem Coronavirus zu fürchten, das öffentliche Gesundheitssystem ist marode und gilt schon im Normalzustand als überlastet. Außerhalb der großen Städte mangelt es zudem in vielen Regionen an Ärzten, Krankenhäusern und –stationen.

Der aus medizinischer Sicht sicherlich sinnvolle Lock-Down entzieht allerdings Millionen von Marokkanerinnen und Marokkanern auf einen Schlag ihre Lebensgrundlage. Haushaltshilfen, die diversen Care-Tätigkeiten in privaten Haushalten nachgehen, fliegende Händler, die auf den Märkten ihre Ware feilbieten, und Kellner ohne feste Arbeitsverträge verlieren aufgrund der Ausgangssperre ihr vollständiges Einkommen. Über 2,4 Millionen Marokkaner arbeiten dauerhaft im informellen Sektor, hinzu kommen die saisonalen Beschäftigungen in der Landwirtschaft.

Den betroffenen Menschen soll nun schnell und unkompliziert geholfen werden – mithilfe von moderner Technik. Kurz nach Verhängung der Ausgangssperre hat das Komitee zur Aufsicht der Wirtschaft eine schnelle Hilfe für den Erwerbsausfall der im informellen Sektor tätigen Bevölkerung zugesagt.

Symbolbild Europäische Union/EU-Fahne; Foto: DW
EU-Hilfe in der Corona-Krise – auch für Marokko: Die Europäische Union unterstützt Marokko mit 450 Millionen Euro im Kampf gegen das Coronavirus. 150 Millionen Euro würden als Soforthilfe an einen von Marokko geschaffenen Fonds gehen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von EU und Marokko. Der Rest sei dafür gedacht, dass das nordafrikanische Land sich besser den finanziellen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Pandemie stellen könne.

Auf einer digitalen Datenbank können sich Bedürftige ohne Sozialversicherung bald mit Telefonnummer und Nummer des Personalausweises registrieren. Daraufhin soll ihnen binnen Stunden ein Code per SMS zugeschickt werden, der sie dazu berechtigt, sich an einer von über 10.000 Bankfilialen, -automaten und Geldtransfer-Agenturen im ganzen Land einen Einmalbetrag auszahlen zu lassen, der sich nach der Haushaltsgröße richtet.

Digital ist besser – aber für wen?

Diese lobenswerte und hoffentlich effektive Art und Weise der Unterstützung für die Ärmsten könnte gleichzeitig dazu beitragen, langfristig ein Ziel zu erreichen, dass der marokkanische Staat in den vergangenen Jahren trotz verschiedener Dekrete und Gesetzgebungsverfahren nicht erreichte: die Formalisierung von informellen Beschäftigungsverhältnissen. Diese würden wiederum zu einer zusätzlichen Generierung von Abgaben für die staatlichen Steuer- und Sozialkassen führen.

Studien gehen davon aus, dass dem marokkanischen Staat durch den informellen Sektor jährlich Steuereinnahmen von 40 Milliarden Dirham (ca. 3,6 Milliarden Euro) entgehen. Die jetzt in der Covid-19-Krise erstellte Datenbank mit ihrer "freiwilligen" Selbstregistrierung wird für dieses Vorhaben künftig eine hervorragende Grundlage darstellen. Viele Marokkaner haben aktuell zur Sicherung ihres Lebensunterhalts wohl keine andere Wahl, als sich für die schnelle staatliche Hilfe zu registrieren.

Im Falle einer möglichen Zweitverwertung ihrer Daten, bleibt zu hoffen, dass die fortschreitende Formalisierung des informellen Sektors sozialverträglich gestaltet wird und das Streben nach mehr Transparenz und Regelkonformität nicht die systematisch ohnehin Marginalisierten – alleinerziehende Mütter, ungelernte Tagelöhner auf Baustellen und in der Landwirtschaft und all jene, die sich mit sonstigen Gelegenheitsarbeiten durchschlagen – zusätzlich benachteiligen wird.

Die Berichterstattung der marokkanischen Presse über die Folgen der Corona-Pandemie gibt bislang kein gutes Bild ab. Die meisten Menschen beziehen ihre Informationen aus den sozialen Netzwerken, darunter natürlich auch viele Falschinformationen. Diese zu entkräften ist wichtig, sie zu kriminalisieren hingegen wenig zielführend.

Genau das ist im Moment aber die Strategie der Regierung. Am 19. März legte diese überraschend einen Gesetzesentwurf vor, der eine gesetzliche Grundlage dafür schaffen soll, die Verbreitung von Fake-News auf sozialen Medien einzudämmen.

[embed:render:embedded:node:39536]Journalisten und Aktivisten sehen hierin einen Versuch, die Covid-19-Krise dafür zu instrumentalisieren, das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit weiter einzuschränken – und zwar ohne öffentliche Debatte. Ein Duzend Menschen wurden auf dieser Grundlage bereits verhaftet, weil sie angeblich Falschmeldungen verbreitet bzw. sich öffentlich gegen die Maßnahmen der Regierung ausgesprochen hätten.

Ein Coronabot und Apps für medizinische Fachangestellte

Gleichzeitig bringt die Krise neue Apps hervor, die dem marokkanischen Gesundheitssystem sicherlich schon vor Corona eine große Hilfe gewesen wären. Das französisch-marokkanischer Start-up Dakibot stellte vor wenigen Tagen einen neuen kostenfreien Chatbot vor, der Nutzer automatisch auf marokkanischem Arabisch Fragen rund um Corona beantwortet und sich dabei auf die Informationen des Gesundheitsministeriums und der Weltgesundheitsorganisation stützt.

Und auch das marokkanische Gesundheitsministerium selbst lancierte am 30. März eine neue App für Ärzte/innen, medizinische Fachangestellte und Expert/innen, um einen schnelleren und besseren fachlichen Austausch rund um die medizinischen Strategien der Bekämpfung des Corona-Virus zu gewährleisten.

Wie unter einem Brennglas fördert die Corona-Krise in Marokko die Ambivalenz von digitalen, datenbasierten Lösungen zu Tage. Kurzfristig sind die neuen digitalen Angebote eine gute und schnelle Art der Fürsorge und Unterstützung, beispielsweise von prekär Beschäftigen. Langfristig könnten sich die Maßnahmen zu einem Bumerang entwickeln, der die die digitale Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger erleichtert und sozio-ökonomische Exklusionsmechanismen verstärkt.

Anja Hoffmann und Bauke Baumann

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