Die letzte Tomate gehört dem türkischen Volk

Mit Gott und günstigem Gemüse wirbt die AKP vor den Kommunalwahlen um Stimmen. Zugleich versucht sie mit allen Mitteln Nachrichten zu unterdrücken, die an der Parteibasis für Unruhe sorgen könnten. Von Bülent Mumay

Von Bülent Mumay

Je näher die Kommunalwahlen am 31. März rücken, umso absurder wird die politische Zankerei in der Türkei. Die seit nunmehr 17 Jahren allein herrschende AKP-Regierung steht zu keinem einzigen ihrer Misserfolge. Die Teuerung der Lebenshaltungskosten lastet sie den Händlern an, die Erhöhung der Zinsen den Banken, den Dollaranstieg den Vereinigten Staaten, das Auflodern des Terrors der Opposition. Sie windet sich aus der Verantwortung, um wegen der Wirtschaftskrise keine Stimmen einzubüßen.

Um Wähler zurückzugewinnen, wird sogar Gott ins Spiel gebracht. Ismet Yilmaz, ein Spitzenfunktionär der AKP, versprach allen, die seine Partei wählen: "Unseren Kandidaten wählen bedeutet Rettung am Jüngsten Tag." Gleichzeitig erfuhren wir, dass Wählern, die der AKP ihre Stimme verweigern, eine ungeheure Gefahr droht. Der AKP-Kandidat für Izmir mahnte auf seiner Vorstellungsversammlung: "Wer nicht die AKP wählt, den straft Gott!"

Ich weiß nicht, inwiefern diese Drohung realistisch ist, sicher bin ich mir aber, dass es, egal ob Sie nun die AKP wählen oder nicht, in diesem System keine Rettung vor "Bestrafung" gibt.

Niemand zahlte die Rechnung

Die von Politikern in ihrer Gier nach Stimmen ausgelösten Katastrophen treffen AKP-Wähler ebenso hart wie ihre Nichtwähler. Vor Kurzem starben 21 Bürger, weil Politiker um des Stimmenfangs willen die Augen vor illegaler Bautätigkeit verschlossen hatten. Ein siebenstöckiges Wohnhaus fiel in sich zusammen, ganz ohne Erdbeben, eine der größten Gefahren für Istanbul.

Eingestürztes Wohnhaus in Istanbul am 7. Februar 2019; Foto: picture-alliance/dpa
Nach dem folgenreichen Einsturz eines Wohnhauses in Istanbul mit 21 Toten hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Konsequenzen angekündigt. "Wir haben eine große Zahl an Lektionen daraus zu lernen", sagte Erdoğan, als er den Unglücksort besuchte. Wirklich? Die Rechnung hat bislang niemand bezahlt.

Jene, die Bauten ohne Baugenehmigung dulden, um Stimmen zu gewinnen, ließen von niemandem kontrollierte und abgenommene Gebäude an Strom, Wasser und Erdgas anschließen. Und vor den Wahlen vom 24. Juni 2018 verkündeten sie einen "Bebauungsfrieden", um Bauunternehmer zu "amnestieren", die dem Staat ein paar Groschen für illegale Bauten zahlen. Das jetzt in Istanbul eingestürzte Haus ist nur eines von etlichen zehntausend illegalen Gebäuden, die die Regierung legalisierte, um Stimmen und Geld einzuheimsen.

Nun erwarten Sie, dass nach der Katastrophe, die 21 Menschen das Leben kostete, die Verantwortlichen zurücktreten, der "Bebauungsfrieden" ausgesetzt und der illegalen Bebauung der Kampf angesagt wird, um neue Desaster zu verhindern, nicht wahr? So funktioniert das System bei uns aber nicht. Bei uns geben die Regierenden Statements ab, als trügen sie keinerlei Verantwortung. Anschließend besuchen sie die Trümmer und posieren mit bekümmerten Mienen. Und bei der Beerdigung umarmen sie die trauernden Familien.

So geschah es auch nach dem jüngsten Fiasko in Istanbul. Niemand zahlte die Rechnung. Der einzige staatliche Beschluss lautete, eine Nachrichtensperre über die Katastrophe zu verhängen. Man wollte nicht, dass herauskam, wer dafür verantwortlich war, dass das Wohnhaus wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Denn man weiß genau, es kostet Stimmen, wenn vor den Wahlen über AKP-Beamte geredet wird, die illegale Bauten geduldet haben.

Von Platz 48 unter die ersten Fünf

Die Tage bis zu den Wahlen sind gezählt, da wird nichts toleriert, das die Stimmen der Regierungspartei gefährden könnte. Man versucht auf verschiedene Weise zu verhindern, dass irgendeine möglicherweise den Unwillen der AKP-Basis erregende Information an die Öffentlichkeit dringt.

Unlängst reiste der ägyptische Regimegegner Muhammed Abdulhafeez Hussein über Somalia in die Türkei ein und stellte einen Asylantrag. Da er aber auf der Liste "auszuliefernder Straftäter" stand, wurde er festgenommen. Gegen Hussein wartet in Ägypten ein Todesurteil auf Vollstreckung, dennoch wurde er am nächsten Tag vom Flughafen Istanbul nach Kairo abgeschoben und an das Erdoğan verhasste Sisi-Regime ausgeliefert.

Von diesem Skandal erfuhr die Türkei dank eines Fotos, das ein Reinigungsmitarbeiter aufnahm, als Hussein ins Flugzeug gesetzt wurde. Nachdem eine kleine Medieneinrichtung die Meldung gebracht hatte, kam es insbesondere aus Reihen der AKP zu Protesten: "Wie konnten wir einen Mann, von dem bekannt ist, dass er hingerichtet werden wird, Sisi ausliefern?" Was meinen Sie, wer diesmal die Rechnung zu bezahlen hatte? Die Regierung selbstverständlich nicht. Verhaftet wurde Emin Çelik, der Arbeiter, der das Foto geschossen hatte, und zwar mit der skurrilen Anschuldigung der Volksverhetzung.

Als dieses eklatante Fehlverhalten des türkischen Außenministeriums bekannt wurde, kam noch ein anderer Skandal heraus, dessen Umstände auf das Außenamt verweisen. Şeyda Çavuşoğlu, eine Nichte von Minister Mevlüt Çavuşoğlu, landete bei der Aufnahmeprüfung für den Masterstudiengang auf Platz 48 von 49 Bewerbern.

Als der Name Çavuşoğlu dennoch auf der Liste der fünf angenommenen Kandidaten auftauchte, wurde Protest in den sozialen Medien laut, so dass auch die Öffentlichkeit davon erfuhr. Die Meldung über eine Begünstigung dieser Art, wie sie in der Türkei zum Normalfall geworden ist, sollte mit dem bekannten Geschick der AKP verheimlicht werden. Per Gerichtsbeschluss wurde die Liste mit den von den 49 Studenten erreichten Punktzahlen von der Website der Universität entfernt. Und der Zugang zu den Seiten gesperrt, die die Nachricht gebracht hatten.

Sie kennt den Einfluss der Wirtschaft

Türkische Lira-Scheine; Foto: Getty Images/AFP
Türkische Lira im freien Fall: "Die Regierung kennt den Einfluss der Wirtschaft auf das Wählerverhalten genau. Die Preise konnte sie nicht ändern, also bemüht sie sich nun, die Wahrnehmung zu ändern. Ihre Waffe, pardon, ihre Munition ist einmal mehr der Nationalismus", kritisiert Bülent Mumay..

Nicht allein Presseeinrichtungen leiden unter juristischer Repression. Auch bei gewöhnlichen Bürgern steht die Polizei vor der Tür, wenn sie auch nur die geringste Kritik am Palast geübt haben. Jüngst wurde der pensionierte Lehrer Abdurrahman Gezen, 96 Jahre alt, Opfer dieses Exzesses. Er wurde auf das Polizeipräsidium vorgeladen, weil er in den sozialen Medien eine AKP-kritische Karikatur geteilt hatte.

Mit Verboten und Ermittlungen soll verhindert werden, dass bestimmte Tatsachen an die Öffentlichkeit gelangen. Es gibt allerdings auch Tatsachen, die sich selbst per Gerichtsurteil nicht aus der Welt schaffen lassen. Wie die Teuerung der Lebenshaltungskosten, die sich in letzter Zeit überall in der Türkei zeigt. Insbesondere die Preise für Grundnahrungsmittel, Obst und Gemüse stiegen um ein Vielfaches der offiziellen Inflationsrate.

Die Regierung kennt den Einfluss der Wirtschaft auf das Wählerverhalten genau. Die Preise konnte sie nicht ändern, also bemüht sie sich nun, die Wahrnehmung zu ändern. Ihre Waffe, pardon, ihre Munition ist einmal mehr der Nationalismus.

Auch Propaganda ist nur in Grenzen wirksam

"Jetzt klammern sie sich an Tomaten und Paprika. Sie reden darüber, weil sie hoffen, damit Stimmen sammeln zu können. Haben unsere Soldaten in Idlib und Dscharabulus mit Panzern und Kanonen die Terroristen geschlagen? Ich frage die Kartoffel- und Tomatenhändler: Kennt ihr den Preis für diese Munition?"

Damit wollte Erdoğan sagen, mit unserer Wirtschaft ist es so weit gekommen, weil wir gezwungen sind, Geld für Munition abzuzweigen. Obwohl vor der Wirtschaftskrise kein neuer Krieg, kein neues Gefecht ausgebrochen war, behauptet er, alles sei teurer geworden, weil wir Ausgaben machen mussten, um unsere Ressourcen zu verteidigen.

Erdoğan hat begriffen, dass auch Propaganda nur bis zu einem gewissen Punkt wirksam ist. Nach dem nationalistischen Diskurs war er zum Handeln gezwungen. Unser Präsident hatte die Preise in den Geschäften nicht drücken können, da begann er, Obst und Gemüse günstig von staatlicher Hand verkaufen zu lassen.

Kilometerlange Schlangen bilden sich vor den Fahrzeugen, die auf den städtischen Plätzen vorfuhren. Nachdem dieselben, die sagen, alles sei teuer, weil wir Geld für Munition ausgeben müssen, die einzige Panzerfabrik der Türkei an die Qatarer verscherbelt hatten, bauten sie eine ambulante Gemüsehändlerkette auf. Brücken und Autobahnen werden von dem Palast nahestehenden Unternehmen verwaltet, unser Staat aber verkauft jetzt Gurken und Tomaten.

Bülent Mumay

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2019

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe