Das Unbehagen in der muslimischen Kultur

Der tunesisch-französische Psychoanalytiker Fethi Benslama sucht in seinem neuen Buch "Der Übermuslim" nach Erklärungen dafür, was junge Menschen in die Radikalisierung treibt. Er fand entwurzelte Menschen, die im radikalen Islamismus Sinnstiftung, Halt, Orientierung und Identität suchen. Von Herbert Csef

Von Herbert Csef

Als Sigmund Freud im Jahr 1930 sein epochales Werk "Das Unbehagen in der Kultur" veröffentlichte, wies er darin u. a. auf, wie Religionen den Kulturmenschen in ein unerträgliches Unbehagen bringen können. Freud bezog sich damals auf die christliche und die jüdische Religion. Mit dem Islam hat er sich nicht auseinandergesetzt.

Nun hat fast ein Jahrhundert später einer seiner Nachfolger dies nachgeholt. Fethi Benslama ist prädestiniert für dieses Thema: Er ist Muslim und stammt aus Tunesien, lebt seit Jahrzehnten in Paris und ist dort an der angesehenen Universität Paris Diderot Professor für Psychoanalyse. Er hat Jahrzehnte in einem Pariser Präventionszentrum mit radikalisierten jugendlichen Muslimen gearbeitet und hat dadurch ein sehr fundiertes Insiderwissen.

Benslama interessiert sich in seiner Untersuchung für die individualpsychologischen Bedingungsfaktoren der islamistischen Radikalisierung. Dabei hat er die psychische Befindlichkeit und innere Motive der muslimischen Jugendlichen im Visier. Er fand ein spezifisches muslimisches Unbehagen: entwurzelte und oft sogar verzweifelte junge Menschen. Was ihnen fehlt, ist Identität, Sinn, Orientierung, Halt, Geborgenheit, Hoffnung und tragfähige Zukunftsperspektiven.

Dreifach entwurzelte Jugendliche

Buchcover Fethi Benslama: "Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt", Verlag Matthes & Seitz
Fethi Benslama beschreibt in seinem Sachbuch - analog zu Sigmund Freuds Über-Ich - das Ideal des "Übermuslims". Viele Jugendliche litten darunter, als Muslime nicht gut genug zu sein. Der "Übermuslim" ist nach seiner Definition stolz statt demütig, betrachtet sich als "wahren" Muslim und sieht den "verwestlichten" Muslim ebenso kritisch wie den feindlichen Westen.

Armut und prekäre Verhältnisse seien nur für einen Teil der Jugendlichen ein Problem, denn 60 Prozent der radikalisierten muslimischen Jugendlichen stammen nach Benslama aus der Mittelschicht und 10 Prozent aus der Oberschicht. Die gefährdeten Jugendlichen seien "dreifach entwurzelt". Sie verloren ihre familiären Wurzeln, sind gesellschaftlich entwurzelt und fühlen sich auch geopolitisch als Muslime entwurzelt.

Diese drei Entwurzelungen gehen mit einem tiefen Identitätsverlust einher. Er führt zu Melancholie, Depression und Verzweiflung.

Benslama spricht wiederholt von "muslimischer Verzweiflung". Die meisten Muslime haben nach Benslama das Selbstkonzept eines "stolzen Muslim". Durch die oben beschriebene Entwurzelung geraten die Jugendlichen in eine Orientierungs- und Sinnkrise und suchen nach einem Ausweg aus ihrer Notlage.

Hier kommt der radikale Islamismus als große Verlockung ins Spiel. Er gibt den Jugendlichen genau das was ihnen fehlt: Sinn, Orientierung, Halt und eine Zukunftsperspektive, die fatalerweise auch im Märtyrertod bestehen kann.

Hochschießender Fahrstuhl des Narzissmus

"Sobald die Religion entdeckt wird, schießt der Fahrstuhl des Narzissmus in die Höhe". Mit diesen Worten beschreibt Benslama die radikale Verwandlung.

Die Jugendlichen erhalten ihren verlorenen Stolz zurück. Die radikalen Islamisten versprechen ihnen eine neue Erhabenheit – sie gehören nun zu den besseren Muslimen und können auf die unterlegenen anderen Menschen herabblicken. Erlaubnis zu Gewalt und zum Töten "Ungläubiger" kommt hinzu.

So kann der Dschihad zu einer Droge werden, die immer wieder neu berauscht – angefeuert durch andere radikale Islamisten.

Nur wenn besorgte Familienangehörige rechtzeitig die Gefahr erkennen, die Notbremse ziehen und ein Präventionszentrum oder eine Deradikalisierungsberatung aufsuchen, besteht noch eine gewisse Chance der "Rettung". Im ungünstigen Fall führt die Sackgasse der Radikalisierung zum Selbstmord-Attentat und Märtyrertod.

Aufbauen einer kritischen Distanz zum Islamismus

Um eine Deradikalisierung zu erreichen, ist nach Benslama ein ganzes Bündel von Maßnahmen erforderlich. Die wichtigsten Faktoren seien das Aufbauen einer kritischen Distanz zum radikalen Islamismus bei den Jugendlichen, die Ermöglichung einer tragfähigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und eine unterstützende Psychotherapie.

Dafür müssen hochprofessionelle Teams von Sozialarbeitern, Psychologen und beteiligten Institutionen gut zusammenarbeiten. Imame, die selbst nicht radikalisiert sind und Gewalt ablehnen, können hierbei hilfreich sein.

Der Psychoanalytiker Fethi Benslama; Quelle: Wikimedia/CC by Indif
Den Ursachen der Radikalisierung innerhalb der jüngeren Generation auf der Spur: Fethi Benslama ist Muslim und stammt aus Tunesien, lebt seit Jahrzehnten in Paris und ist dort an der angesehenen Universität Paris Diderot Professor für Psychoanalyse. Er hat Jahrzehnte in einem Pariser Präventionszentrum mit radikalisierten jugendlichen Muslimen gearbeitet und hat dadurch ein sehr fundiertes Insiderwissen.

Die Wahl der Überschrift soll keinesfalls suggerieren, dass alle Muslime in ihrer Kultur ein Unbehagen empfinden. Sie bezieht sich auf den Erfahrungshorizont des besprochenen Buches, also auf junge Muslime im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die in Frankreich leben. Auf andere Länder und andere Lebensbedingungen sind diese Erklärungsmuster nur sehr begrenzt übertragbar.

Eine Jury aus zahlreichen Experten und von Rundfunkanstalten und führenden deutschen Zeitungen hat das neue Buch von Fethi Benslama als bestes Sachbuch im Mai 2017 ausgezeichnet. Eine gute Wahl.

Herbert Csef

© Qantara.de 2017

Fethi Benslama: "Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt", Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017, 141 Seiten, ISBN: 978-3-95757-388-9