Zwischen Koexistenz und Unterdrückung

Seit Jahrhunderten leben Christen und Muslime im Orient zusammen. Martin Tamcke beschreibt in seinem Buch "Christen in der islamischen Welt" die Geschichte sowie die Vielfalt christlicher Konfessionen im Orient. Claudia Mende hat es gelesen.

Von Claudia Mende

​​Sollen Muslime doch erst einmal den Christen in den islamischen Ländern zu gleichem Recht verhelfen, bevor sie hier in Deutschland eigene Rechte einfordern, so lautet eine griffige Forderung an die islamischen Verbände hierzulande. Die Rolle der Christen in der arabischen Welt war immer ein Politikum und der Westen nutzt seine orientalischen Glaubensbrüder gerne für eigene Zwecke, wenn es gerade passt. Von einer solchen Instrumentalisierung hebt sich Martin Tamcke, Professor für Ökumenische Theologie an der Universität Göttingen, gleich zu Beginn seines Buches wohltuend ab.

Tamcke bringt Übersicht in die schier unüberschaubare Vielfalt christlicher Konfessionen des Orients: Armenier in der Türkei, Maroniten im Libanon, Kopten in Ägypten, Chaldäer im Irak und Syrien sowie Orthodoxe im ganzen Nahen Osten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich nicht nur konfessionell, sondern auch ethnisch von den Arabern unterscheiden. So verweisen die Kopten auf ihre Herkunft aus pharaonischer Zeit. Syrische Christen betonen ihre eigene Sprache, das Aramäische, das bis heute in der Liturgie verwendet wird.

Akzeptanz der Christen als Lackmustest

Orientalisches Christentum erinnert daran, dass nicht das Abendland, sondern der Orient die Heimatregion des Christentums ist, so Tamcke. Über die genaue Zahl der Christen in den einzelnen Ländern gibt es keine verlässlichen Angaben, rund zehn Millionen Christen sollen es insgesamt sein. Seit dem Beginn des Irakkriegs gibt es eine neue, massive Ausreisewelle aus dem ganzen Nahen Osten. Fundamentalistische Tendenzen und eine unsichere wirtschaftliche Zukunft sind die Hauptgründe für die Emigration. Für den Theologen Martin Tamcke ist die Stellung der Christen als Minderheit in einem islamischen Kontext so etwas wie ein Fieberthermometer für die Befindlichkeit der islamischen Gesellschaften.

Der Umgang mit den Christen wird zeigen, ob sich die islamische Welt auf eine echte Multireligiosität hin entwickeln kann oder weiter in Richtung Islamismus abdriftet. Nachdem die meisten Juden nach 1948 den Nahen Osten verlassen haben und Bahais im Iran verfolgt werden, sind heute die Christen die einzige größere nicht-islamische Gemeinschaft. Tamcke kennt den Orient durch seine Lehraufträge in Damaskus, Aleppo, Teheran, Kairo und Beirut. Er hat keine Anklage verfaßt, weil er zur Differenzierung betragen will. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass nicht nur die islamische Welt zu lernen hat. Auch das europäische Christentum musste erst mühsam den Weg zur kritischen Selbstreflexion finden und ist nicht dagegen gefeit, hinter diese Entwicklung zurück zu fallen. Wie der Islam sind auch die Kirchen des Orients noch nicht durch das Feuer der Aufklärung gegangen.

Kulturelle Auseinandersetzung als Gewinn

Es gelingt dem Autor anhand einer Fülle von Beispielen zu verdeutlichen, wie viele Facetten das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Orient seit Jahrhunderten hat. Von der friedlichen Koexistenz über die subtile Diskriminierung bis hin zu offener Verfolgung und Pogromen ist alles dabei. Kurz nach der islamischen Eroberung im 7. Jahrhundert boten die Kalifen den religiösen Minderheiten Schutzverträge an, die den rechtlichen Rahmen für ihre Fortexistenz bildeten. ​​

Schutzverträge funktionierten nach dem Prinzip Abgaben gegen Garantien für die Sicherheit von Leib und Leben. An der Interpretation dieser Schutzverträge scheiden sich allerdings bis heute die Geister: Für Musime sind sie Ausdruck einer im Europa der damaligen Zeit unbekannten Toleranz, die orientalischen Christen selbst deuten sie als Ausdruck einer Demütigung, weil sie ihre Stellung als Bürger zweiter Klasse zementierten. Für Tamcke sind sie ursprünglich durchaus beachtlich im historischen Kontext wurden aber später ausschließlich repressiv angewendet.

Am stärksten ist das Buch, wo es beschreibt, nach welchen Mustern interreligiöse Dialoge zwischen Christen und Muslimen verliefen. Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Anderen für jede Kultur wesentlich ist. Orientalische Christen vermittelten den Arabern den Schatz antiken griechischen Wissens. Sie übersetzten die Schriften aus dem antiken Syrisch in die arabische Hochsprache. Gleichzeitig hatten bedeutende muslimische Philosophen wie Avicenna (980 –1037) und der Mathematiker al-Farabi (873-950) christliche Lehrmeister.

Christen verlassen den Irak ​​

Weniger überzeugend ist der aktuelle Teil. Tamcke streift nach dem Ausflug in die Geschichte die gegenwärtige Lage der Christen in der Türkei, im Irak und Iran, im Libanon, Äthiopien und Ägypten. Hier ist die Auswahl der Länder zu einseitig. In keinem arabischen Land besteht echte Religionsfreiheit, auf diese traurige Bilanz weist Tamcke zu Recht hin.

Besonders unter Druck stehen die Kopten durch die rasante Islamisierung Ägyptens, ebenso die Christen ausgerechnet in der säkularen Türkei. Dennoch wünscht man sich, dass auch Länder wie Jordanien und Syrien vorkommen, die das Bild abrunden könnten. In Syrien ist der Islam keine Staatsreligion und im Reich von Bashar al-Assad ist man stolz auf eine lange Tradition meist friedlichen multireligiösen Miteinanders. Der irakischen Kirche dagegen droht das Aus, wenn sich die Situation in dem Land nicht stabilisiert. Mehr als die Hälfte der rund eine Million irakischen Christen ist bereits geflüchtet.

Dieser massive Exodus ist eine direkte Folge der amerikanischen Invasion. Arabische Christen werden für eine US-Politik abgestraft, die sie genauso ablehnen wie ihre islamischen Nachbarn.

Claudia Mende

© Qantara 2008

Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, Beck Verlag 2008