Reformdenker der muslimischen Welt

Der Islam ist reformierbar, und er ist dabei, sich zu erneuern: Das ist die Kernthese des neuen Buches "Der Islam am Wendepunkt" – eine Sammlung von Porträts bedeutender muslimischer Reformer der Gegenwart. Martina Sabra hat das Buch gelesen.

Von Martina Sabra

Wie bringen Muslime ihren Glauben mit der Moderne in Einklang? Wie vereinbaren sie den Islam mit Demokratie und Menschenrechten? Über das rechte Islamverständnis wird in der islamischen Welt leidenschaftlich debattiert. Anhand von 19 Einzelporträts islamischer Reformer und Reformerinnen belegt der vorliegende Sammelband die Vielfalt einer Debatte, die heute von Indonesien bis in die USA geführt wird, und deren historische Wurzeln teilweise bis in die Anfänge des Islams zurückreichen. Den Begriff "Reformer" haben die Herausgeber dabei bewusst weiter gefasst als üblich, und – im Sinn des lateinischen 'reformare' als 'Wiederherstellung von Früherem' – neben liberalen auch konservative Standpunkte berücksichtigt.

Liberale und konservative Reformer

Das Spektrum reicht daher von dem fortschrittlichen, an Immanuel Kant und moderner Hermeneutik geschulten iranischen Theologen Schabestari über den eher konservativen Schweizer Intellektuellen Tariq Ramadan bis hin zu dem südafrikanischen Befreiungstheologen Farid Esack und der ägyptischen Muslimschwester Gihan al-Halafawi. Zugeordnet sind die Porträts insgesamt fünf Kapiteln, deren Überschriften die wichtigsten Herausforderungen zeitgenössischer Reformer umreißen: Der Islam in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften, das Verhältnis von Islam und Demokratie, die Rolle des islamischen Rechts (Scharia) im modernen Staat, die zeitgemäße Interpretation des Korans, und die Bedeutung von Frauen- und Menschenrechten im Koran.

Keine der vorgestellten Reformpersönlichkeiten vertritt eine weltliche Position; alle argumentieren von einem religiösen Standpunkt aus. Für nichtmuslimische, europäische Leser besonders interessant sind die Porträts einflussreicher europäischer Protagonisten, allen voran der 1962 in Genf geborene Philosoph und Islamwissenschaftler Tariq Ramadan.

Muslime als Minderheit in Europa

Den häufig geäußerten Vorwurf, Tariq Ramadan sei ein Wolf im Schafspelz, lässt der Freiburger Islamexperte Ludwig Ammann nicht gelten. Zwar verteidige Ramadan die Scharia als Rechtsquelle, aber andererseits greife er das Auslegungsmonopol des orthodoxen muslimischen Klerus an. Ramadan, so Ammann, sei zwar kein liberaler Reformer, aber auch kein Reaktionär: "Er ist ein Konservativer, der das vom Wandel überforderte Volk da abholt, wo es ist." Aber man fragt sich, warum die Herausgeber ihre Auswahl auf ReformerInnen aus dem Nahen und Mittleren Osten, der Türkei und Europa beschränkt haben. Saudi-Arabien und die arabische Golfregion fehlen gänzlich. Marokko, Algerien und Tunesien sind mit einer Ausnahme (Nadia Yassine) ebenfalls nicht vertreten. Es gab vermutlich einen Grund für die Auswahl, aber darüber hätte man im Vor- oder Nachwort gern etwas erfahren.

Man fragt sich auch, ob die Herausgeber die einzelnen Themen angemessen gewichtet haben. Das Kapitel über die Scharia-Reformen wirkt schmal im Verhältnis zur gesellschaftlichen Bedeutung des Themas und der realen Dynamik, zumindest in den arabischen Ländern. Hier hätte zum Beispiel ein Porträt der marokkanischen Rechtsgelehrten Farida Bennani hineingepasst, die als Wissenschaftlerin und Expertin zum Thema Frauenrechte im Islam nicht nur die jüngsten Familienrechtsreformen in Marokko beeinflusst hat.

Auch das Kapitel über "islamischen Frauen- und Menschenrechtsaktivismus" fällt angesichts der Bedeutung des Themas recht schlank aus, und wiederum sind die Kriterien nicht klar: Nadia Yassine aus Marokko, die in diesem Kapitel porträtiert wird, ist weder eine Frauen- noch Menschenrechtsaktivistin, sondern die Sprecherin einer von Männern geführten politischen Bewegung. Die Tatsache, dass Nadia Yassine sich für eine Frauenquote in den Führungsgremien dieser Bewegung einsetzt, macht sie noch nicht zu einer Feministin. Nadia Yassines Reforminteresse galt bislang nicht der Religion, sondern der marokkanischen Monarchie, die sie durch eine islamische Republik ersetzen möchte. Wie es in dieser islamischen Republik um Demokratie, Menschen- und Frauenrechte bestellt sein soll, ist unklar.

Laizismus ist keine Option

Rückzug auf sich selbst oder Öffnung für die globale Moderne - wohin treibt die islamische Welt? Dieser Frage widmet sich der Schweizer Politikwissenschaftler Patrick Haenni im Nachwort. Für Haenni geht es nicht darum, ob der Islam kompatibel mit der Moderne ist, denn die Musliminnen und Muslime leben die Moderne längst in ihrem Alltag – auch wenn die Theologie und Ideologie noch hinterhinken. Die Frage ist für Haenni vielmehr, zu welchem Modell von Moderne muslimisch geprägte Gesellschaften langfristig neigen.

Eine strikte Trennung von Religion und Staat nach französischem Vorbild hält Haenni in der islamischen Welt weder für wahrscheinlich noch für erstrebenswert. Haenni hält es für wahrscheinlicher, dass das Verhältnis von Religion und Staat sich in islamisch geprägten Gesellschaften nach anglo-amerikanischem Muster entwickeln wird: Das heißt, dass der Staat als solcher nicht religiös ist, Religiosität in der Öffentlichkeit aber eine wichtige Rolle spielt und dies nicht als Widerspruch zur Moderne begriffen wird.

Martina Sabra

© Qantara.de 2006

"Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion", hrsg. von Katajun Amirpur und Ludwig Ammann, Verlag Herder, 192 Seiten